Deutsche Redaktion

Sieg der Vernunft oder "Failed State"?

14.05.2020 12:29
Die Presseschau diesmal mit einem Blick in die Wochenzeitungen und die Frage: Was genau ist am 10. Mai geschehen und wie geht es nun weiter?
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Diesmal mit einem Blick in die Wochenzeitungen und der Frage: Was genau ist am 10. Mai geschehen und wie geht es nun weiter?

 

DoRzeczy: Sieg der Vernunft 

Der Kompromiss zwischen PiS-Chef Jarosław Kaczyński und Koalitionspartner Jarosław Gowin sei eine der besten Nachrichten, die er in letzter Zeit habe kommentieren können, schreibt im Leitartikel zur aktuellen Ausgabe der nationalkonservativen Wochenzeitung “Do Rzeczy” Chefredakteur Paweł Lisicki. Den beiden Politikern sei es - um es metaphorisch auszudrücken - im letzten Moment vor dem Zusammenprall mit der Wand noch gelungen, das rasende Fahrzeug zu stoppen. Dank dessen werde man die Wahlen so vorbereiten können, dass ihre Legitimität nicht angefochten wird. Zweitens könne man im Juli, der als der wahrscheinlichste Termin der verschobenen Präsidentschaftswahlen gelte, auf eine normale Wahlfrequenz zählen, da die Polen sich bis dahin an die Epidemie werden gewöhnt haben. Der dann gewählte Präsident werde also auch über ein entsprechendes Mandat zur Machtausübung verfügen. Drittens, so der Publizist, sei es gelungen, den Zerfall des Regierungslagers zu verhindern, was in der aktuellen Situation eine echte Katastrophe wäre. Schließlich hätten beide Politiker gezeigt, dass sie für das Gemeinwohl über die persönlichen Ambitionen hinwegschauen können. Doch die Opposition werde sich, statt sich über den Kompromiss zu freuen, wohl wie immer verhalten, also hoffnungslos und hysterisch. Es bleibe nur zu hoffen, dass die Zahl der Polen, die dies erkennen von Monat zu Monat steigen werde, so Paweł Lisicki in "Do Rzeczy". 

Newsweek: Failed State

Geht es indes nach dem Chefredakteur der linksliberalen Wochenzeitung Newsweek, Tomasz Lis, erfülle Polen, nach dem letzten Tauziehen um den Termin der Präsidentschaftswahlen mittlerweile fast alle Kriterien dessen, was man in der amerikanischen Politikwissenschaft als “failed state” bezeichnet - eines misslungenen Staates also, in dem die Regierung entweder nicht funktioniere, oder die Situation nicht kontrolliere. Der polnische Staat funktioniere noch einigermaßen, aber das System sei fast vollständig entartet und die Machthaber fast vollständig depraviert. Die Fäulnisprozesse seien weit fortgeschritten und ehrlich gesagt sei aus seiner Perspektive nichts am Horizont zu sehen, was diesen Prozess nicht nur nicht stoppen, aber wenigstens für eine gewisse Zeit bremsen könnte, so Tomasz Lis in seinem Leitartikel für Newsweek.


Polityka: Feindliche Waffenruhe

Wie die linksliberale "Polityka" beobachtet, habe das Durcheinander vor den für den 10. Mai geplanten Präsidentschaftswahlen und der in letzter Minute geschlossene Pakt der zwei Jarosławs Konflikte in der Regierungskoalition offengelegt, die in längerer Perspektive die Demission des aktuellen Regierungschefs Morawiecki nach sich ziehen können.

Geht es nach dem Blatt, fühlen sich die Veteranen der Recht und Gerechtigkeit seit dem Beginn der Pandemie marginalisiert. Die Arbeit an den Schutzschirmen, erinnert die Zeitung, habe die in der PiS unbeliebte Entwicklungsministerin Jadwiga Emilewicz, den mit dem Premierminister befreundete Gesundheitsminister Łukasz Szumowski und die Mitarbeiter von Morawiecki: Łukasz Schreiber, der Chef des ständigen Kommitees des Ministerrats und Kanzleichef Michał Dworczyk politisch gestärkt. Das gefalle weder den verdienten PiS-Aktivisten noch den Mitgliedern der mit dem Premierminister zerstrittenen Partei von Justizminister Zbigniew Ziobro. Daher die offene Medienschlacht, die sich die verschiedenen Fraktionen vor dem Hintergrund des verschobenen Wahltermins geliefert hätten. Eine Situation, die noch vor einigen Monaten fast undenkbar gewesen wäre. Und die die Frage nach der Macht von Parteichef Kaczyński aufwerfe. Dessen Führungsrolle, so Polityka, werde zwar nicht angefochten. Doch er müsse mit den Stimmungen in seiner Partei rechnen. Und diese seien so, dass viele in der PiS, gemeinsam mit Ziobro und dessen Partei Morawiecki nicht mehr im Ministerpräsidenten-Sessel sehen wollen. Bei der nächsten Kraftprobe könnte Kaczyński also gezwungen sein, den Regierungschef zu opfern, so Polityka. 

 

Do Rzeczy: Stoßstange an Stoßstange

Auch die Zukunft der weiteren Co-Existenz der Partei von Jarosław Gowin in der Koalition der Vereinigten Rechten nach dem Erpressungs-Manöver, das zum Last-Minute-Abkommen geführt habe, sowie die innerparteilichen Spannungen in Gowins Partei würden offen bleiben, beobachtet der Autor der nationalkonservativen Wochenzeitung Do Rzeczy Piotr Semka. Im ersten Thema, so der Publizist, sei die Irritation über die vom ehrgeizigen Krakauer Gowin durchgeführte Sabotage verstummt, aber sehr tief. “Mit einem Erpresser spricht man nicht” - eine solche Meinung, in der auch Distanz zu Kaczyńskis Entscheidungen zu vernehmen gewesen sei, habe er von einem Mitglied des politischen Komitees der PiS gehört. Heute würden solche Thesen, vor dem Hintergrund der gerade noch verhinderten Katastrophe, zwar hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen, könnten aber jederzeit wieder hochkochen. Aber auch die Situation von Gowin selbst sei nicht viel einfacher, so Semka. Die neuliche Krise habe zwar die Grenzen der Macht von Kaczyński gezeigt, aber auch Gowin habe begreifen müssen, dass er in seiner eigenen 18-köpfigen Fraktion höchstens auf acht Personen zählen könne. In der selbstständigen Politik sei dies wenig. Auch wenn sich in der Krise keiner seiner Rivalen zu erkennen gegeben habe. 

Beide Seiten - die Sympathiker von Gowin und die von Kaczyński - würden nach dem Tauziehen letzte Woche also lernen müssen, wieder miteinander zu leben. Wenn die Ressentiments sich als zu stark erweisen, dann wäre das ein Verlust für die ganze Regierungskoalition, so Piotr Semka in seinem Kommentar für Do Rzeczy.


Polityka: Die Masken sind gefallen

Nach der Coronavirus-Welle beginnt auf der Welt eine Welle des bürgerlichen Protests, schreibt in der aktuellen Ausgabe unter Berufung auf einen Bericht von Associated Press das linksliberale Wochenblatt Polityka. Auch in Polen sei diese Abwehrreaktion zu sehen. Ende April, erinnert das Blatt, hätten in Cieszyn an der Grenze zu Tschechien die ersten Proteste begonnen. Die Pendler beiderseits der Grenze, lesen wir, hätten gegen die Pflicht einer 14-tägigen Quarantäne nach der Rückkehr in die Heimat protestiert. Die Pflicht sei zwar am 4. Mai abgeschafft worden, gelte aber immer noch für medizinisches Personal und Angestellte von Pflegeheimen. Aus diesem Grund hätten die Einwohner von Słubice und Frankfurt an der Oder am 9. Mai - dem Europatag - demonstriert. Denn die Arbeit von Medizinern stelle sich oft als unmöglich heraus. Entweder können sie nicht zur Arbeit oder nach Hause zurückkehren. In Polen, erinnert Politika, wohnen etwa 170 Tausend Menschen, die zur Arbeit ins Ausland pendeln. 

Außerdem würden, wie das Blatt beobachtet, in den Social Media immer mehr Gruppen entstehen, deren Mitglieder sich als “maskenlos” bezeichnen, die Verbote nicht befolgen, Mund und Nase nicht abdecken und die vorgeschriebene Distanz nicht einhalten. Wie das unabhängige Portal OKO.press beobachtet, charakterisiere die Mitglieder solcher Gruppen nicht selten Radikalismus von Forderungen, Angst vor 5G (das in Polen am 11 Mai eingeführt wurde) und allgemeiner Unglaube an Impfungen, lesen wir in Polityka. 

Autor: Adam de Nisau