Deutsche Redaktion

Hat der Westen Belarus im Stich gelassen?

12.08.2020 12:27
Im Mittelpunkt der Pressekommentare steht heute die Situation in Belarus. Was waren die Kulissen der Ausreise von Lukaschenkas Rivalin? Was macht Lukaschenka derzeit die größten Sorgen? Und: Hat der Westen Belarus im Stich gelassen? Mehr unter anderem dazu in der Presseschau.
Zamieszki na Białorusi
Zamieszki na Białorusi PAP/EPA/TATYANA ZENKOVICH

Dziennik/Gazeta Prawna: Die Paket-Strategie der belarussischen Politik

In einem gemeinsamen Kommentar für das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna rekonstruieren die Publizisten Zbigniew Parafianowicz und Michał Potocki die Kulissen der Ausreise der wichtigsten Rivalin von Lukaschenka, Swiatlana Cichanouska.

Der Aufenthalt in der Zentralen Wahlkommission, wo Cichanouska ihren Wahlprotest einreichte, lesen wir, habe sich in die Länge gezogen, da im Zimmer nebenan die Herren Offiziere von der KGB etwas mit der Politikerin zu besprechen hatten. Wie aus Informationen des Blattes hervorgehe, hätten die Beamten in einem sachlichen, emotionslosen Gespräch informiert, dass derzeit die Suche nach dem Schuldigen für die “Vorfälle und Unruhen” in Minsk und anderen Städten laufen würde. Zum Porträt des potentiellen Schuldigen würde eben Frau Cichanouska am besten passen. Besonders, da ihr Ehemann Siarhiej schon für Ähnliches in Haft sitze. Für den Versuch, Unruhen zu stifen, würden ihm bis zu 12 Jahre Haft drohen.

Zudem, so die Offiziere weiter, würde er an einem Ort verweilen, in dem es nicht besonders sicher sei. Mit unterschiedlichen Kriminellen, die versuchen könnten, ihm etwas anzutun. In dieser Situation wäre es nicht gut, wenn auch Frau Cichanouska ihn Haft geraten würde. Denn wer würde dann für die Kinder sorgen, die sich auf EU-Gebiet befinden würden, wo sie unter der Aufsicht von vertrauten aber dennoch fremden Menschen seien. Der Sohn sei 10 Jahre alt, die Tochter gerade mal vier. In zwölf Jahren, wenn die Eltern aus der Haft entlassen würden, würden die beiden wohl nur schwach an sie erinnern. Von der verlorenen Gelegenheit, Nähe aufzubauen, ganz zu schweigen.

Und daher die rhetorische Frage: Sei es sinnvoll, in die große Politik einzusteigen? In zwölf Jahren werde sich keiner mehr an den Namen Cichanouska erinnern, da schon jetzt in den Protesten am Sonntag der Name der Oppositionellen nicht auf den Fahnen gestanden habe. Und auch die Freunde vom Wahlstab seien nicht alle so loyal, wie es scheine, wovon die Aufnahen der abgehörten Gespräche zeugen würden. 

Die gute Nachricht: All diese Aufnahmen und Szenarien können in Vergessenheit geraten, wenn Cichanouska die Freiheit in einem der EU-Staaten wählt. Der Staat könne sie sogar bis an die Grenze begleiten. Und, wenn sich die Situation in ein paar Monaten beruhige, werde auch ihr Ehemann ausreisen können. Ohne Zeugen, Emotionen und unnötige Publicity.

Wie es das Glück so wollte, so die Autoren des Artikels weiter, seien mit den Offizieren auch Kameraleute zu dem Gespräch gekommen, so das die Oppositionelle ihren Landsleuten sofort erklären konnte, wieso ihr keine andere Wahl geblieben sei. Und in dieser Situation habe sie eigentlich tatsächlich keine andere Wahl gehabt. Es scheint, dass auch die Belarusse ihr ihre Entscheidung nicht übel nehmen, so Parafianowicz und Potocki im Kommentar für Dziennik/Gazeta Prawna.

Gazeta Wyborcza: Streik-Gefahr verängstigt Lukaschenka

Wie die linksliberale Gazeta Wyborcza beobachtet, sei die Ausreise von Cichanouska laut einigen Kommentatoren ein schwerer Schlag für die Demonstrierenden gewesen. Der Politologe und Publizist Aleksandr Fieduta sehe das jedoch gelassener und erinnere, dass die Demonstranten “nicht für die Königin gegen den bösen Diktator, sondern für Freiheit” kämpfen.

Daher, so das Blatt weiter, seien für Lukaschenka auch die Signale über Streiks in vielen staatlichen Betrieben ein besonderer Grund zur Sorge. Im Land würden Gerüchte kreisen, dass weitere Fabriken ihre Arbeit abbrechen wollen, darunter Flaggschiffe der belarussischen Industrie, wie MTZ (das Minsker Traktorenwerk) oder die Chemiefabrik Grodno Azot. All das erinnere ein wenig an die Stimmungen in Polen vom August 1980, als auch enorme Unsicherheit herrschte, wer schon im Streik sei und wer noch nicht. Die Gefahr eines Generalstreiks müsse Lukaschenka, der die Parteikollegen selbst darüber belehrte, was die größte “Waffe des Proletariats” sei, Angst bereiten. Mit seinen OMON-Einheiten und ihrer teuren Ausrüstung für Straßenkämpfe würde er dagegen machtlos sein, lesen wir in der Gazeta Wyborcza. 

Gazeta Wyborcza: Ich lobe die PiS

In einem Autorenkommentar lobt der Chefredakteur der Gazeta Wyborcza Adam Michnik die Haltung der Regierung PiS in Bezug auf die Geschehnisse in Belarus. Wie der Publizist erinnert, habe Premierminister Mateusz Morawiecki an EU-Außenminister Josep Borell appelliert, einen Sondergipfel der EU zur Situation in Belarus einzuberufen. Außenminister Jacek Czaputowicz habe indes die Vorwürfe von Lukaschenka dementiert, laut denen die Proteste in Belarus von Polen, Tschechien und Großbritannien inspiriert worden seien. Und als möglichen Ausweg aus dem Konflikt einen Dialog nach dem Vorbild des Runden Tisches in Polen von 1989 genannt.

Es, so Michnik,  freue, dass von wichtigen PiS-Politikern Worte gefallen seien, die in Übereinstimmung mit dem Wertesystem der EU stehen würden. Er würde sich vielleicht noch zusätzlich wünschen, dass diese Politiker in Erinnerung behalten, dass es neben Belarus auch einen anderen Staat gebe, in dem Millionen von Menschen ebenfalls lieber über Dialog nach dem Vorbild des Runden Tisches hören wollen, als die Brutalität der Polizei gegenüber friedlichen Demonstranten mitzuverfolgen oder die Hexenjagd auf LGBT. 

Aber zunächst einmal lobe er die Politiker der PiS - auch wenn sie ihm seit fünf Jahren keine Gelegenheit dazu gegeben hätten, so Adam Michnik in der Gazeta Wyborcza.  

 

Rzeczpospolita: Belarus ist allein geblieben

Belarus ist vom Westen im Stich gelassen worden, urteilt in seinem Kommentar der Publizist der konservativen Rzeczpospolita, Jędrzej Bielecki. Die Krise in Minsk, so der Autor,  habe sich weder eines Tweets von Trump als würdig erwiesen, noch eines Telefons von Angela Merkel. 

Dabei würden die aktuellen Geschehnisse über das Schicksal von Belarus für die kommenden Jahre, vielleicht Jahrzehnte entscheiden. Und nicht nur über das von Belarus. Die Ereignisse bei Polens Nachbarn würden auch die Einwohner vieler anderer autoritärer Staaten der Welt mitverfolgen, von Mittelasien, bis hin zu Nordafrika. Sie würden sich überzeugen wollen, ob auch sie um Demokratie kämpfen sollten.

Leider hätten sich als die großen Abwesenden die USA und die EU erwiesen, die sich beide auf Standard-Appelle an Minsk um die Würdigung von Menschenrechten beschränkt hätten. Der Vorschlag des polnischen Regierungschefs Morawiecki, wenigstens einen virtuellen, ein- bis zweistündigen EU-Sondergipfel zur Situation in Belarus einzuberufen, sei nur vom kleinen Litauen unterstützt worden. Swiatlana Cichanouska hätten weder Angela Merkel noch Emmanuel Macron angerufen. Die ohne Unterstützung gebliebene Rivalin von Lukaschenka habe sich der Erpressung des KGB gebeugt und das Land verlassen.

Diese Gleichgültigkeit werde Belarus sehr viel kosten, einen hohen Preis werde aber auch der Westen zahlen müssen. Sein wichtigster Trumpf - die Promotion von Freiheit und Menschenrechten - werde mit dieser Haltung in Frage gestellt. Und ohne ihn bleibe der Wettstreit mit autokratischen Regimen, wie China, Russland und Saudi Arabien im militärischen und wirtschaftlichen Bereich. Beides Bereiche, in denen - wie die Pandemie zeige - Europa und Amerika nicht unbedingt die Oberhand behalten würden.

Es gebe auch ein Fazit für Polen: Wir sollten den wundersamen Zufall wertschätzen, dank dem Polen, das sich an der Grenze zweier Zivilisationen befinde, 1989 auf der richtigen Seite gelandet sei. Heute würde sich dies wohl eher nicht wiederholen, so Jędrzej Bielecki in der Rzeczpospolita.


Autor: Adam de Nisau