Deutsche Redaktion

Das Rufen der Kirche in der Wüste

04.11.2020 12:17
Das Projekt zur Abtreibung verzögert sich, Bildungsminister droht Lehrern und bereiten rote Generäle einen Putsch vor? Der Streit um die Verschärfung der Abtreibungsregelungen bleibt weiterhin eines der führenden Themen in der öffentlichen Debatte und in den Pressekommentaren. Die Einzelheiten in der Presseschau.
Funkcjonariusze policji i przedstawiciele środowisk narodowych przed kościołem św. Krzyża przy Krakowskim Przedmieściu w Warszawie
Funkcjonariusze policji i przedstawiciele środowisk narodowych przed kościołem św. Krzyża przy Krakowskim Przedmieściu w WarszawiePAP/Radek Pietruszka

Dziennik/Gazeta Prawna: Das Rufen der Kirche in der Wüste

Fast 66% der polnischen Gesellschaft bewertet die Rolle der Kirche im öffentlichen Leben negativ, schreibt unter Berufung auf eine aktuelle Umfrage von United Surveys das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna. Nur etwa 27% der Polen seien gegenüber den Aktivitäten der Kirche positiv eingestellt und etwa 7% seien unentschieden. Das Verhältnis zwischen den Gegnern und Befürwortern der Proteste gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes sei fast identisch - 67% der Befragten würden die Proteste unterstützen, 28% seien entgegengesetzter Meinung, lesen wir in Dziennik/Gazeta Prawna. 

 

Rzeczpospolita: Projekt zur Abtreibung verzögert sich

Indes hat die regierende Partei PiS die Parlamentssitzung zum Gesetzesprojekt von Staatspräsident Andrzej Duda zur Abtreibung um zwei Wochen verschoben. Eigentlich sollten die Abgeordneten schon diese Woche über den Vorschlag diskutieren. Doch am Dienstag hätten die Politiker der PiS im Sejm angekündigt, dass die Diskussion erst am 18. und 19. November stattfinden wird. Inoffiziell heiße es, dass den Regierenden für das Projekt in seiner aktuellen Form die Mehrheit fehlt und es auch in den Reihen der PiS-Fraktion zu beträchtlichen Spannungen rund um den Gesetzesentwurf gekommen ist. Der zweiwöchige Aufschub soll helfen, die Gemüter in der Partei und unter den Protestierenden zu beruhigen, so Rzeczpospolita.

Gazeta Wyborcza: Bildungsminister droht Lehrern

Der neue Bildungsminister droht Lehrern, die ihre Schüler zur Teilnahme an den Protesten ermuntert haben, mit harten Konsequenzen, schreibt in ihrem Aufmacher die linksliberale Gazeta Wyborcza. Am Montag, so die Zeitung, habe der Minister die Leiter der Schulaufsichtsbehörden aufgefordert, eine Umfrage auszufüllen und eine Beschreibung der entsprechenden Vorfälle, der Ortschaft und des Namens der Schule an das Ministerium zu schicken. "Es werden die weitestgehenden Konsequenzen gezogen, die dem Ministerium und den Schulaufsichtsbehörden zur Verfügung stehen", habe der Minister angekündigt. "Die Volksrepublik, wie aus dem Bilderbuch", habe die Initiative Ex-Gesundheitsminister Bartosz Arłukowicz auf Twitter kommentiert, lesen wir in der Gazeta Wyborcza.

Gazeta Polska Codziennie: Bereiten rote Generäle einen Putsch vor?

Skandal: Bereiten die roten Generäle einen Putsch vor, fragt indes in ihrem heutigen Aufmacher die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie. Und beruft sich auf einen offenen Brief von 200 Militärs im Ruhestand, darunter von ehemaligen Offizieren der Volksrepublik, an die Regierung. Darin würden die Unterzeichneten die These aufstellen, dass die Regierenden mit ihrem Aufruf, Kirchen zu verteidigen, zu einer … Eskalation des Konflikts um die Abtreibung führen. Die Militärs, wundert sich das Blatt, würden sogar suggerieren, dass tätige Funktionäre auf Seiten der Protestierenden stehen und ein Teil von ihnen die Demonstrationen unterstütze.

"Ihre Worte sind zynisch. Das aggressive Verhalten, das die Öffentlichkeit erschüttert hat, kann sich in noch etwas Gefährlicheres verwandeln", kommentiert den Brief im Gespräch mit dem Blatt PiS-Politiker Antoni Macierewicz. Und Kommentator Jan Galarowicz wundert sich in seiner Stellungnahme, wer uns denn die Jugend so verdorben habe, die während der letzten Proteste mit barbarischem Verhalten und Verwilderung schockiere.

Rzeczpospolita: Fort mit Ortodoxie und Fundamentalismus

Der Streit um die Abtreibung ist ein Streit um den Anfang des Lebens, schreibt in seinem Autorenkommentar zum Konflikt in der Rzeczpospolita der Politologe Jan Zielonka. Die Verfassung, so der Autor, stelle sich auf Seiten des Lebens, definiere jedoch nicht, wann dieses Leben beginne. Die Bibel tue es auch nicht. Die komplizierte theologische Debatte zum Thema habe in der Kirche einige hundert Jahre gedauert. Darauf, dass das Leben mit der Zeugung beginne, habe sich die Kirche erst im vorigen Jahrhundert festgelegt und heute sehe man, dass diese Stellungnahme sich weiter entwickelt und diskutiert wird.

Die fanatischen Verteidiger des Glaubens in Polen würden indes besser als alle anderen wissen, wann Leben beginne und die eigene Interpretation am liebsten allen anderen aufzwingen. Die einseitige Interpretation des Glaubens soll zu geltendem Recht werden. So beginne ein Konfessionsstaat. Seine iranische Freundin habe ihm mal erzählt, wie dieser Prozess in ihrer Heimat ausgesehen habe. Er habe mit einer komplizierten moralischen Frage begonnen und mit einem Make-up- und Hosenverbot für Frauen geendet. Im neuen Testament sei viel von einem Linksradikalen mit dem Namen Jesus zu lesen, der Migranten, Arme, Ungläubige und sogar Prostituierte in Schutz nahm und falsche Pharisäer verurteilte. Weg mit Ortodoxie, Scheinheiligkeit und Fundamentalismus, so Jan Zielonka in seinem Kommentar für die Rzeczpospolita

 

Autor: Adam de Nisau