Deutsche Redaktion

"Wenig Reue für Ostpolitik unter deutschen Spitzenpolitikern"

22.06.2022 14:14
Trotz des Kriegs in der Ukraine, sei unter den deutschen Spitzenpolitikern wenig Reue in Bezug auf ihre Ostpolitik zu erkennen, beobachtet der Publizist des Wirtschaftsblatts Dziennik/Gazeta Prawna, Zbigniew Parafianowicz. Der nationalkonservative Publizist Tomasz Sakiewicz sieht Deutschland und Frankreich in eine Phase des politischen Chaos Schlittern. Und Łukasz Warzecha von der Rzeczpospolita fragt, was eigentlich noch geschehen muss, damit die Polen auf die Straßen gehen.
Kanclerz Olaf Scholz (SPD) w wypowiedzi dla Niemieckiej Agencji Prasowej (dpa) broni polityki pojednania z Rosją swojej poprzedniczki - Angeli Merkel (CDU).
Kanclerz Olaf Scholz (SPD) w wypowiedzi dla Niemieckiej Agencji Prasowej (dpa) broni polityki pojednania z Rosją swojej poprzedniczki - Angeli Merkel (CDU).Drop of Light/Shutterstock

Dziennik/Gazeta Prawna: Russland wollte und will von Anfang an keine Versöhnung

Trotz des Kriegs in der Ukraine, sei unter den deutschen Spitzenpolitikern wenig Reue in Bezug auf ihre Ostpolitik zu erkennen, beobachtet der Publizist des Wirtschaftsblatts Dziennik/Gazeta Prawna, Zbigniew Parafianowicz. Altkanzlerin Angela Merkel, lesen wir, habe kürzlich in einem Interview für deutsche Medien ihre langjährige Ostpolitik, darunter den Bau von Nord Stream 2 oder die Minsker Abkommen mit Russland nach der Besetzung der Krim, nicht bemängelt. Auch ihr Nachfolger, Bundeskanzler Olaf Scholz, habe in Bezug auf Merkels Politik eingeräumt, dass „ein Versuch der Versöhnung niemals falsch sein kann, genauso wie der Versuch, sich im Frieden zu einigen". Laut Scholz habe Merkel nicht einmal dann einen Fehler begangen, als sie der Ukraine und Georgien beim Bukarest-Gipfel 2008 den Nato-Beitritt verwehrt habe.

Es sei faszinierend, so der Autor, wie man nach so vielen Jahren Erfahrung mit Wladimir Putin so "alberne Thesen" formulieren könne. Merkel würde die Minsker Abkommen immer noch als ein legitimen Deal mit einem glaubwürdigen Führer behandeln. Scholz wiederum träume von einem "Versöhnungsversuch" in einer Situation, in der Russland von Anfang an keine Versöhnung gewollt habe und wolle.

Beide Interviews seien jedoch nicht das Ergebnis von Dummheit oder Ignoranz deutscher Politiker, die die beiden wichtigsten Parteien – Christdemokraten und Sozialdemokraten – vertreten. Sie seien nur eine Bestätigung dafür, wie unterschiedlich die Wahrnehmung der Sicherheitspolitik in Osteuropa durch Berlin (oder allgemeiner das sogenannte Alte Europa) und durch die Ostflanke der NATO - vor allem Polen und die baltischen Staaten - sei, so Zbigniew Parafianowicz in Dziennik/Gazeta Prawna.

niezależna.pl: In Europa brechen neue Zeiten an

Sowohl Deutschland als auch Frankreich würden nach den letzten Wahlen in eine Zeit des politischen Chaos eintreten, sagt in einem Interview für die regierungsnahe Nachrichtenseite niezalezna.pl der Chefredakteur der nationalkonservativen “Gazeta Polska Codziennie”, Tomasz Sakiewicz. In Deutschland zeige sich dies seit dem Abgang von Angela Merkel. Seitdem sei es nicht gelungen, eine stabile Koalition zu bilden. Die Regierung habe zwar eine Mehrheit, sei aber von mehreren Parteien abhängig. Ihr Anführer sei zudem sehr instabil. Hin und wieder ändere Scholz seine Meinung, widerspreche sich selbst oder gebe Erklärungen ab, die er dann nicht einhalte. Frankreich, fährt Sakiewicz fort, gehe nach den Parlamentswahlen in genau die gleiche Richtung. Dort werde es ebenfalls große Probleme geben, eine stabile Regierung zu bilden, glaubt der Autor.
Die Vision einer paneuropäischen deutsch-französischen Politik sei deshalb am Ende, heißt es. Die Gesellschaften beider Länder wüssten nicht, in welche Richtung sie gehen sollten und was sie wollen. Die einen würden eine EU-Desintegration, die anderen eine noch stärkere Integration befürworten. Die einen würden einen großen Groll gegen das Energiebündnis mit Russland hegen, die anderen würden sich darüber ärgern, dass diese Bruderschaft gekappt wurde, weil sie jetzt wirtschaftlich darunter leiden.
Dieser Mangel an klaren Visionen, so Sakiewicz, werde weitere Konflikte und Spaltungen hervorrufen. Solange die wichtigsten Staaten keine neue Idee für die europäische Politik formuliert haben, werde auf dem Kontinent eine Periode politischer Instabilität andauern. Und dieser Zustand, verschaffe Mitteleuropa, das sich unabhängig von der Mitte integriere und sich auf die USA und die Zusammenarbeit mit Großbritannien stütze, einen gewissen Handlungsspielraum, um seine Zukunft in diesen neuen Zeiten selbst zu gestalten, so Tomasz Sakiewicz im Interview für niezalezna.pl.

Rzeczpospolita: Fügsam wie das polnische Volk

Łukasz Warzecha schreibt für die Rzeczpospolita über die übertriebene Gehorsamkeit der Polen im Vergleich mit dem Rest Europas. Am Montag, erinnert der Publizist, hätten die Belgier gegen die steigenden Lebenshaltungskosten protestiert. Teilweise sei dadurch sogar der Flugverkehr lahmgelegt worden. Die Inflation betrage dort 9 Prozent. In Irland sei sie etwas niedriger - im Mai seien es 8,3 Prozent gewesen. Trotzdem seien am selben Tag Tausende Menschen auf die Straßen gegangen, um gegen die sich verschlechternde Lebenssituation zu protestieren. Wenige Tage zuvor habe in London eine große Demonstration stattgefunden. Die Teilnehmer hätten der Regierung vorgeworfen, nichts gegen das gleiche Problem zu unternehmen. Mit der Zeit, so Warzecha, werde es sicher noch mehr solcher Proteste geben. Nur nicht in Polen. Und das, obwohl die Inflation hier offiziell inzwischen fast 14 Prozent betrage. Viele Experten würden sogar von 20 Prozent sprechen. Der Schluss liege nahe, dass man Polens Einwohner finanziell beliebig belasten kann und diese trotzdem fügsam wie Lämmer bleiben. Falls jemand glaube, dass die Polen sich erheben könnten, so könne man ihn nur auslachen. Die Machthaber indes, so Warzecha, und zwar egal ob gegenwärtig, früher oder zukünftig, würden leise mitlachen, wenn ihnen jemand sage, dass sie mit sozialem Protest rechnen müssen.

Polens Bürger, fährt der Autor fort, würden nur rein ideologische Dinge auf die Straße führen. Streitigkeiten um die Abtreibung oder die Justiz. Das also, was für die Mehrheit im Alltag keine Rolle spiele. Inzwischen scheine es aber viele Gründe zu geben, um endlich zu protestieren. Unternehmer zum Beispiel seien zuerst mit Lockdowns und dann mit einer neuen Steuerreform erdrosselt worden. Jetzt würden sie zusätzlich von hohen Strom- und Gaspreisen belastet. Und was passiere? Nichts. Und das, obwohl Polen Millionen kleiner und mittlerer Unternehmer habe.

Hunderttausende Polen würden auch mit ihren Zloty-Krediten nicht zurechtkommen. Dies sei vor allem auf die fahrlässige Geldpolitik der Regierung zurückzuführen, die die hohe Inflation ausgelöst habe. Oder die Kohlekrise, die die Regierung mit einem vorzeitigen Embargo für russische Kohle selbst ausgelöst habe. Und was passiere? Wieder nichts.
“Haben die Polen einfach keine Lust auf Widerstand?”, fragt Warzecha. Vielleicht sei alles schon vollständig nur dem Parteikrieg untergeordnet. Jedenfalls räche sich diese schreiende Passivität gegenüber Beispielen des fatalen Regierens. Die Politiker hätten gelernt, dass sie die Polen mit jedem teuren Unsinn, jeder Absurdität, Steuer oder Gebühr belasten können. Die Bürger würden bestenfalls nur im Internet Radau machen. Sie seien sich daher selbst schuld, so Łukasz Warzecha in der Rzeczpospolita.

Autor: Piotr Siemiński