Deutsche Redaktion

"Geopolitische Entscheidung der EU"

24.06.2022 13:37
Ein wichtiges Thema in den heutigen Pressekommentaren ist der EU-Kandidatenstatus für die Ukraine. Es geht aber auch um die weiterhin ambivalente Haltung Deutschlands und Frankreichs in Bezug auf Waffenlieferungen. Und um die Frage. Wird die EU Polen die Justizreform infolge des Kriegs vergessen?
Jest to historyczny moment - komentarze po decyzji Rady Europy
"Jest to historyczny moment" - komentarze po decyzji Rady EuropyAlexandros Michailidis/Shutterstock

Rzeczpospolita: Geopolitische Entscheidung der EU

Die EU hat der Ukraine und Moldawien den Kandidatenstatus verliehen. Die historische Bedeutung dieses Ereignisses könne nicht überschätzt werden, schreibt Anna Słojewska in der Rzeczpospolita. Zuvor habe die EU sich nämlich geweigert, irgendwelche Zusagen gegenüber Kiew zu machen. Seit dem Ausbruch des Krieges habe die Ukraine trotzdem Milliarden von Euro erhalten, um die Existenz des Staates zu stützen. Eine beispiellose Militärhilfe, Rechtsschutz für Millionen von Flüchtlingen und die Zusage, beim Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg zu helfen. Die EU habe sich klar auf die Seite der Ukraine gestellt und bereits sechs kostspielige Sanktionspakete gegen Russland verabschiedet.
Brüssel habe jedoch niemals klar gesagt, dass die Ukraine eines Tages der EU beitreten könnte. Jetzt habe die EU dem Land eine Perspektive gegeben, für die die Ukrainer seit Jahren kämpfen. Und das sogar auf dem Schlachtfeld. Słojewska zufolge, sei die Entscheidung der EU gewagt. Die Union sei zu den Höhen des geopolitischen Denkens aufgestiegen und habe die zuvor vorherrschenden rechtlichen Erwägungen beiseitegeschoben. Sie habe verstanden, dass die Ukrainer neben konkreter Hilfe auch ein Symbol brauchen, um der russischen Aggression zu widerstehen.
Von einem Tag auf den anderen, lesen wir, werde sich jedoch nichts ändern. Es werde Jahre dauern, bis die Ukraine alle Beitrittsvoraussetzungen erfüllt. Polen habe zehn Jahre lang verhandelt. Was der Ukraine sicherlich helfe, lesen wir, sei die unglaubliche Entschlossenheit ihrer Einwohner, aber auch die Hilfsbereitschaft aus Brüssel und den Nachbarländern, die bereits in der EU seien. Diese würden großes Interesse daran haben, Kiew in die Zone der Sicherheit und des Wohlstands zu ziehen.
Der mögliche Beitritt der Ukraine stelle die EU aber bereits jetzt vor eine ernsthafte Herausforderung für ihre geopolitischen Entscheidungen, so das Blatt. Trotz der großen Erweiterung von 2004, sei die EU geopolitisch klar nach Westen geneigt: Die Staaten dieses Teils Europas hätten den größeren Einfluss. Historisch gesehen kämen von dort auch die meisten hochrangigen EU-Beamten. Der Beitritt der Ukraine würde diesen Akzent verschieben. Es werde allerdings viele Jahre dauern, bis die Ukraine, wenn überhaupt, der Europäischen Union beitrete. Bis dahin werde die Union eine ganz andere Gemeinschaft sein, so Słojewska in der Rzeczpospolita.

Rzeczpospolita: Die Ermüdung in Europa nimmt zu

Noch vor vier Monaten habe der Westen mit einem baldigen Bankrott des Kremls und einer Rebellion der russischen Gesellschaft gegen Putins Regime gerechnet. Heute aber breche der Rubel-Wechselkurs gegenüber dem Dollar Rekorde, wie schon lange nicht mehr, beobachtet der Publizist der konservativ-liberalen Rzeczpospolita, Jędrzej Bielecki. Auch die Exporteinnahmen Moskaus, so der Autor, würden weiterhin auf einem sehr hohen Niveau bleiben. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Frankreich, bei denen Macron die absolute Mehrheit verloren hat, seien deshalb nur eines von vielen Zeichen für die wachsende Ermüdung des Westens von den wirtschaftlichen Kosten des Krieges. Auch in Bulgarien sei die pro-westliche Regierung von Kiril Petkow zusammengebrochen.

In dieser Situation, so Bielecki, ließen sich die Absichten der EU am besten anhand der kurzfristigen Maßnahmen messen. Vor dem Hintergrund der russischen Offensive im Donbass und dem Versuch, die Ukraine vollständig vom Meer abzuschneiden, würden hier vor allem schnelle Waffenlieferungen an die Ukraine eine entscheidende Rolle spielen. Leider, so der Autor, würden sich die Deutschen und Franzosen in diesem Bereich weiter träge verhalten. Nur ein Drittel der von Berlin angekündigten Waffen seien bis dato in der Ukraine angekommen. Auch im Falle von Frankreich, das ebenfalls zu den größten Waffenexporteuren der Welt zähle, sehe die Situation nicht viel besser aus.

Schließlich habe die “Welt” zuletzt berichtet, dass Scholz, Macron und Draghi bei ihrem Besuch in Kiew hinter verschlossenen Türen Druck auf Selenskyj ausgeübt haben, sich des Friedens Willen mit territorialen Zugeständnissen an Russland abzufinden. Offiziell würden Berlin und Paris dies entschieden bestreiten. Wie lange noch, fragt Bielecki in der Rzeczpospolita.

Dziennik: Franzosen und Deutsche "schmieden" Friedensplan für die Ukraine

Die Franzosen und Deutschen haben die Folgen des Kriegs für ihre Volkswirtschaften satt, berichtet auch Dziennik/Gazeta Prawna unter Berufung auf die spanische Tageszeitung El Confidencial. Daher würden sie, wärend Großbritannien und die USA auf weitere Waffenlieferungen drängen, an einem Friedensplan arbeiten, in dessen Rahmen sowohl Russland als auch die Ukraine einige Zugeständnisse machen müssten. Die zwei Perspektiven auf den Krieg würden nun Ende Juni beim NATO-Gipfel in Madrid aufeinanderprallen. Zu den Befürwortern härterer Maßnahmen sowie einer deutlichen Stärkung der NATO-Präsenz an der Ostflanke würden dabei sicherlich auch die baltischen Staaten gehören, die sich als nächstes Angriffsziel des Kremls fühlen. Der Krieg habe Russlands Armee geschwächt und auch schon bestehende Schwächen hervorgehoben. Daher gebe es Zweifel, ob das von den baltischen Staaten gewünschte Maß an NATO-Bereitschaft wirklich notwendig sei. Ukraines Staatspräsident Selenskyj, die baltischen Staaten und wahrscheinlich auch Polen, würden voraussichtlich trotzdem auf ein stärkeres militärisches Engagement der Allianz an der Ostflanke bestehen, berichtet Dziennik/Gazeta Prawna unter Berufung auf das spanische Tagesblatt El Confidencial.

Polityka: Polenbild in der EU deutlich verändert

Im Aufmacher ihrer aktuellen Ausgabe beschreibt die Polityka die veränderte Wahrnehmung Polens in der EU. Seit dem Kriegsbeginn, beobachtet das Blatt, höre Warschau in Brüssel vermehrt Lob, Respekt und Glückwünsche für den gelungenen Umgang mit ukrainischen Flüchtenden, während Diskussionen über umstrittene Themen, wie etwa die Justizreform und die Rechtsstaatlichkeit in den Hintergrund rücken.
Das Kriegsbeil mit der EU-Kommission sei jedoch nur vorläufig beiseite gelegt, nicht endgültig begraben worden, warnt Polityka. Wie das Blatt erinnert, bleibe die Regierungspartei im Kern bei ihrer harten Position im Streit um die Rechtsstaatlichkeit und behaupte weiterhin, dass die Urteile des wichtigsten EU-Gerichts in Fragen der Unabhängigkeit der Justiz nicht für sie gelten. Polens Versuche, durch eine starke Position im Ukrainekrieg zu einem der mächtigsten Spielmacher in Europa zu werden, seien zwar etwas naiv. Gleichzeitig stimme es, dass die Position Polens, wenn es der Regierung denn gelinge, den Ballast vergangener Streitigkeiten in den Beziehungen mit Brüssel abzuwerfen, stärker werden könnte, als je zuvor.
Fazit: Letztendlich werde das, was die Regierung mit ihrem „goldenen Horn“ in der Außenpolitik tun wird, wohl vor allem durch den weiteren Verlauf des Kriegs in der Ukraine entschieden, so die Polityka.


Autor: Piotr Siemiński/Josephine Schwark