Deutsche Redaktion

"Parlamentsbeschlüsse keine gute Methode für Änderungen"

22.01.2024 11:15
Die rechtliche Lage im Kampf um die Staatsinstitutionen bleibt unübersichtlich. Ein neues Expertenpanel der Rzeczpospolita kritisiert das Vorgehen der neuen Regierung in den öffentlichen Medien und der Justiz. Ein Verfassungsexperte argumentiert, wieso die inhaftierten PiS-Politiker Kamiński und Wąsik weiterhin Abgeordnete sind. Und: Auch die Lehrer sind, nach der Veröffentlichung der konkreten Pläne für die angekündigten Gehaltserhöhungen stinksauer. Mehr zu diesen Themen in der Presseschau.
Publicyści o ograniczeniu immunitetów formalnych.
Publicyści o ograniczeniu immunitetów formalnych.piosi/Shutterstock

Rzeczpospolita: Parlamentsbeschlüsse keine gute Methode für Änderungen

Die rechtliche Lage im Kampf um die Staatsinstitutionen bleibt unübersichtlich. Die konservativ-liberale Rzeczpospolita hat den seit der Machtübernahme durch die neue Regierung andauernden Streit - um die Rechtmäßigkeit der Änderungen in den öffentlichen Medien, in der Justiz aber auch um die inhaftierten PiS-Politiker Kamiński und Wąsik - zum Anlass genommen, um nach dem Vorbild des Panels von Wirtschaftsexperten auch ein Juristenpanel ins Leben zu rufen. Wie wir auf der Titelseite lesen, will das Blatt die Experten - Richter, Anwälte, Rechtsbeistände und Wissenschaftler - regelmäßíg zu kontroversen juristischen Themen befragen. Das erste Thema, das das Blatt den Panelteilnehmern zur Bewertung vorgelegt hat, habe die Möglichkeit betroffen, Änderungen in den öffentlichen Medien auf der Grundlage eines Sejm-Beschlusses einzuführen. Das zweite Thema sei die Zulässigkeit von Änderungen im Justizwesen auf der Grundlage eines solchen Beschlusses gewesen. Wie das Blatt berichtet, habe die Mehrheit der Juristen festgestellt, dass sie mit der ersten These - über die Möglichkeit von Änderungen in den öffentlichen Medien auf der Grundlage eines Beschlusses - “nicht einverstanden” oder “entschieden nicht einverstanden” ist. Ähnlich sei das Votum in Bezug auf das zweite Thema, also Änderungen in der Justiz anhand von Beschlüssen ausgefallen, lesen wir in der Rzeczpospolita.

Plus Minus: Kamiński und Wąsik sind weiter Abgeordnete

Auch die Frage des Status der beiden inhaftierten PiS-Politiker Kamiński und Wąsik sorgt weiterhin für enorme Kontroversen. Während ein Teil der Juristen der Meinung ist, dass das Abgeordnetenmandat der beiden mit dem rechtskräftigen Urteil gegen sie automatisch ausgelöscht worden ist, äußert Verfassungsexperte Prof. Ryszard Piotrowski in einem ausführlichen Interview für das Wochenendmagazin der Rzeczpospolita “Plus Minus” die Meinung, dass Kamiński und Wąsik weiterhin Abgeordnete sind und bemängelt das juristische Chaos, das nach dem Regierungswechsel ausgebrochen ist.  Die einen würden sagen: "Wir verstehen das Gesetz auf diese Weise und wenden es so an", die anderen – "wir verstehen das Gesetz ganz anders", so Piotrowski. Ein Beispiel sei eben der Fall von Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik. Der Premierminister sage: "Sie wurden rechtskräftig verurteilt, die Begnadigung von 2015 ist ungültig". Der Präsident erkläre: "Meine Begnadigung ist wirksam". Dazu komme der Sejmmarschall, der erkläre: "Ich verstehe das Gesetz so, dass ich das Gesetz über den Obersten Gerichtshof nicht befolgen muss". Das sei furchtbar! Dieser Zustand, dass die Verfassung für alle gleich sei, aber jeder seine eigene habe, führe zur Eliminierung der Verfassung. Infolge der jüngsten Ereignisse – die nicht der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit dienen, denn die habe es in Polen vor 2015 nicht gegeben und eigentlich habe es seit 1989 immer Probleme damit gegeben – hätten wir nun einfach ein riesiges Chaos. 

Wie Piotrowski zugibt, hätten die Konservativen dasselbe gemacht. Nach 2015 seien das Recht und die Verfassung verletzt worden – es gebe viele Fakten, die das bestätigen würden. Eine Verletzung der Verfassung sei zum Beispiel die Ernennung von Richtern in den Nationalen Justizrat durch Politiker gewesen, obwohl es eine solche Bestimmung in der Verfassung nicht direkt gebe. Aber wenn man die Verfassung im Ganzen lese, dann werde deutlich, dass das konstitutionelle Prinzip gebrochen wurde. Wenn wir annehmen, dass das, was nicht ausdrücklich geschrieben steht, nicht existiert, bedeutet das, dass es keine Standards eines demokratischen Rechtsstaates gibt, so der Experte.

Gefragt danach, ob Polen noch ein Verfassungsgericht hat, antwortet Piotrowski, man könne nicht davon ausgehen, dass etwas, das existiert, nicht existiert, nur weil es uns nicht gefällt. Wir hätten zwar ein Straßburger Urteil über Urteile, die in falscher Besetzung gefällt worden seien, aber die Aussage, dass die Entscheidungen des EuGH eine unmittelbare Rechtsquelle sind, sei schwer zu akzeptieren. Wir hätten auch ein Urteil des polnischen Obersten Gerichtshofs, das feststelle, dass ein Urteil des Gerichtshofs, das in falscher Besetzung gefällt worden sei, nicht endgültig oder allgemein verbindlich ist. Ein Gericht könne schließlich nicht ein Urteil akzeptieren, das als Folge eines Verfassungsbruchs gefällt worden sei.

In Bezug auf den Obersten Gerichtshof und insbesondere die umstrittene Außerordentliche Kontrollkammer des Obersten Gerichtshofs vertrete er die Meinung, dass diese ohne Zweifel in polnischen Angelegenheiten ein Gericht ist. Wir hätten es in dieser Angelegenheit mit nationaler und europäischer Rechtsprechung zu tun und müssten diese unterscheiden. Kürzlich habe es ein Urteil aus Straßburg gegeben, laut dem, wenn ein Urteil in einem nationalen Verfahren gefällt werden soll, der EuGH dafür keine Auslegung geben wird, da eine Auslegung des Unionsrechts „objektiv nicht erforderlich ist, um ein Urteil durch ein nationales Gericht zu fällen“. Angelegenheiten, die keinen Bezug zum europäischen Recht hätten, können also von der Außerordentlichen Kontrollkammer entschieden werden. Nur in Fällen mit einem europäischen Element sei diese Kammer kein Gericht, da sie nach Ansicht des EuGH keinen wirksamen Rechtsschutz in den Bereichen des Unionsrechts gewährleisten könne. 

Die Folge: Wenn diese Kammer entschieden habe, dass die Amtsenthebung von Wąsik und Kamiński durch den Marschall Hołownia unangemessen gewesen sei, dann seien beide ganz sicher weiter Abgeordnete. Die Verfassung besage zwar, dass niemand in den Sejm gewählt werden kann, der rechtskräftig wegen eines vorsätzlichen Verbrechens verurteilt wurde. Aber wir müssten auch Artikel 45 Absatz 1 berücksichtigen, der das Recht auf eine unverzügliche Gerichtsverhandlung durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und unvoreingenommenes Gericht – also ein gesetzlich eingerichtetes und nicht vom Willen des Sejmmarschalls abhängiges Gericht – regele. Der Verlust des Mandats eines rechtskräftig verurteilten Abgeordneten erfordere einen Beschluss des Sejmmarschalls, der das Erlöschen des Mandats feststelle. Zwar sei das ein Automatismus – der Marschall des Sejm könne dies nicht verweigern – aber das bloße Vorliegen eines Grundes für das Erlöschen des Mandats führe noch nicht zu einer rechtlichen Wirkung in Form des Erlöschens. Der Abgeordnete könne innerhalb von drei Tagen über den Marschall des Sejm beim Obersten Gerichtshof Berufung einlegen. Die Berufung werde beim Obersten Gerichtshof eingereicht, und aus dem Gesetz über den Obersten Gerichtshof gehe hervor, dass sie an die Außerordentliche Kontrollkammer gehen sollte. Das bedeute, dass der Marschall den Adressaten in einer solchen Berufung nicht ändern könne. Indem er die Außerordentliche Kontrollkammer umgangen und die Berufung direkt an die Kammer für Arbeit und Sozialversicherungen geschickt habe, da die erste Kammer seiner Meinung nach kein Gericht sei, habe Sejmmarschall Hołownia also das Recht auf ein Gerichtsverfahren für beide Politiker verletzt. Der Marschall habe die durch die Arbeitskammer abgesegnete Entscheidung über das Erlöschen des Mandats von Kamiński dann veröffentlicht, aber durch die Umgehung der Kammer für Außerordentliche Angelegenheiten sei diese Entscheidung rechtlich fehlerhaft. Seiner Meinung nach, so Piotrowski, hätten also beide PiS-Politiker noch ihr Mandat, würden dieses aber nicht ausführen, weil sie ihrer Freiheit beraubt seien. Aber sie seien immer noch Abgeordnete.

Das wahrscheinlichste Szenario für die nahe Zukunft, so Piotrowski weiter, sei eine Verschärfung des Konflikts. Die vorherigen Regierenden hätten danach gestrebt, die Kontrolle über den gesamten Staat zu übernehmen, und die jetzige Macht tue dasselbe. Der Konflikt zwischen der Mehrheit und der Opposition, bei dem es zur Umgehung und Verletzung des Rechts durch die Mehrheit komme, führe zu sozialen Spannungen. Darüber hinaus untergrabe er die Überzeugung, dass das Recht Sinn macht, nicht weil auf einer Seite Stärke und auf der anderen Schwäche sei, sondern weil das Recht konkrete Werte ausdrücke. Ohne diese Überzeugung würden wir uns in Richtung einer Anarchisierung der Gesellschaft bewegen.

Die Glaubwürdigkeit von Politikern und Juristen sei bereits untergraben worden. In der öffentlichen Wahrnehmung gebe es keine Verfassung für alle – jeder habe seine eigene. Es gebe kein Recht für alle – jeder habe sein eigenes. Und recht habe der, der stärker sei. Diejenigen, die die Verfassung zerstört hätten, würden jetzt verkünden, dass sie nicht existiere, da sie in Bezug auf ihre Partei verletzt werde. Diejenigen, die die Verfassung verteidigt hätten, würden jetzt behaupten, dass sie nicht gelte, weil sie zuvor verletzt worden sei. Juristen würden überlegen, wie man das Gesetz nicht befolge, ähnlich wie jener Senat in dem Gedicht des Poeten Zbigniew Herbert „Herr Cogito über die aufrechte Haltung“, der darüber beraten habe, „wie man kein Senat ist“. Das sei äußerst deprimierend, so Prof. Ryszard Piotrowski im Gespräch mit Plus Minus.

Gazeta Wyborcza: Gehaltserhöhungen für Lehrer ohne Euphorie

Und noch an einer weiteren Front deutet sich Ärger an. Inzwischen kennen wir bereits die genauen Beträge der geplanten Lehrergehälter. „Ich bin nicht enttäuscht, ich bin wütend“, zitiert dazu die stellvertretende Vorsitzende des Lehrerverbands ZNP Urszula Woźniak die linksliberale Gazeta Wyborcza. Der Grund: Aus dem veröffentlichten Entwurf, so das Blatt, gehe hervor, dass die noch im Wahlkampf versprochene Gehaltserhöhung um „nicht weniger als 1.500 Złoty brutto“ nicht die realen Gehälter (Grundgehälter) betrifft, sondern Durchschnittsgehälter, in die zahlreiche Lehrern zustehende Zulagen, sowie Abfindungen bei der Pensionierung einbezogen sind. Und bei der Berechnung des Durchschnittsgehalts habe das Ministerium die Summe der Gehälter nicht durch die Anzahl der Vollzeitstellen, sondern durch die Anzahl der im Beruf Beschäftigten geteilt. Das bedeute, dass Lehrer, die zum Beispiel zwei Vollzeitstellen innehaben, den Durchschnitt anheben. Der zweite Vorwurf der Lehrer sei, dass die geplanten Gehaltserhöhungen die Lehrergehälter auf tragische Weise abflachen. So werde ein so genannter ernannter Lehrer nur 149 Złoty brutto mehr verdienen als ein Anfänger. Eine Lehrerin mit 14 Jahren Berufserfahrung und vier Qualifikationen werde auch nur um etwa so viel mehr verdienen als ein Hochschulabsolvent. Die ernannten Lehrer haben kein gutes Haar an dem Gehaltsentwurf gelassen. “Sie sind einfach stinkwütend“, betont Woźniak. Für den 1. Februar hat der Lehrerverband Gespräche mit der Regierung angekündigt, bei denen er laut eigenen Angaben vorhat, eine Realisierung der Wahlversprechen durchzusetzen, so Gazeta Wyborcza. 

Autor: Adam de Nisau