Der Norweger, der das Amt des NATO-Generalsekretärs von 2014 bis 2024 innehatte und vor Kurzem seine Memoiren veröffentlicht hat, blickte selbstkritisch auf seine Zeit an der Spitze des Bündnisses zurück. Bereits 2014, nach dem Beginn des Kriegs im Donbass und der Annexion der Krim durch Russland, habe er versucht, die Mitgliedsstaaten zu einer entschlosseneren militärischen Unterstützung der Ukraine zu bewegen. „Ich habe damals argumentiert, dass wir mehr tun müssen, um die Ukraine zu stärken. Doch die Mehrheit der Mitgliedsstaaten blockierte das einfach“, sagte Stoltenberg.
Erst viele Jahre später habe sich die Haltung geändert. „Zehn Jahre später, am Ende meiner zweiten Amtszeit, im dritten Jahr des Kriegs in der Ukraine, einigten sich schließlich alle Alliierten auf eine NATO-Operation, bei der das Bündnis die militärische Unterstützung für die Ukraine koordinieren sollte“, erklärte der 65-Jährige.
Laut Stoltenberg habe die Mehrheit der NATO-Staaten 2014 und in den Folgejahren die Bedrohung durch Russland massiv unterschätzt. „Fast alle Alliierten waren anfangs sehr zurückhaltend, weil sie fürchteten, Russland zu provozieren“, sagte er. „Wenn ich etwas aus diesen zehn Jahren bereue, dann diese Unentschlossenheit. Hätte die NATO der Ukraine von Beginn an mehr Waffen geliefert, hätte das Russland vielleicht davon abgehalten, so viel Territorium zu erobern – vielleicht hätte Moskau die Invasion gar nicht gewagt.“
Mit Blick auf die immensen Waffenlieferungen der vergangenen zwei Jahre fügte Stoltenberg hinzu: „Wenn wir früher nur einen Bruchteil dessen geliefert hätten, was wir heute jedes Jahr schicken müssen, hätten wir womöglich den gesamten Krieg verhindern können.“
Stoltenberg warnt vor Nachlassen der Unterstützung
Gleichzeitig warnte der ehemalige NATO-Chef davor, die Unterstützung der Ukraine jetzt zu verringern. „Der schnellste Weg, den Krieg zu beenden, wäre, ihn zu verlieren – aber das würde keinen Frieden bringen, sondern nur eine dauerhafte Besatzung“, sagte Stoltenberg. „Wenn man Frieden will, muss man Putin davon überzeugen, dass er auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen kann, dass er sich an den Verhandlungstisch setzen und ein Abkommen akzeptieren muss, das die Ukraine als souveränen, unabhängigen Staat bestehen lässt.“ Der einzige Weg, dies zu erreichen, sei die militärische Unterstützung der Ukraine.
„Russland hat die Ukrainer völlig unterschätzt“
Stoltenberg betonte zugleich, Russland habe sich in seiner Kriegsplanung grundlegend verschätzt. „Die Ukraine leidet enorm und musste 20 Prozent ihres Territoriums abgeben, aber Russland hat keines seiner Kriegsziele erreicht“, sagte er. „Sie wollten Kiew in wenigen Tagen und die gesamte Ukraine in wenigen Wochen einnehmen. Doch die Ukraine hat 50 Prozent des von Russland besetzten Gebiets zurückerobert. Russland hat die Kontrolle über das Schwarze Meer verloren und zahlt zudem einen hohen wirtschaftlichen Preis.“
„Finnische Lösung“ als denkbares Szenario
Auf die Zukunft der Ukraine angesprochen, brachte Stoltenberg ein sogenanntes „finnisches Modell“ ins Gespräch – in Anlehnung an den Winterkrieg von 1939/40, nach dem Finnland Teile seines Territoriums an die Sowjetunion abtreten musste, dafür aber seine Unabhängigkeit bewahrte. „Natürlich wäre es das Beste, wenn die Ukraine alle derzeit von Russland besetzten Gebiete befreien könnte“, sagte Stoltenberg. „Aber in der Geschichte mussten Länder manchmal auf einen Teil ihres Territoriums verzichten, um ihre Sicherheit zu gewährleisten.“
Er betonte jedoch, dass ein solcher Schritt nicht dauerhaft sein müsse. „Nehmen wir die baltischen Staaten, die Stalin in die Sowjetunion eingegliedert hat. Viele Länder, darunter die USA, haben diese Annexion nie anerkannt – aber sie akzeptierten den faktischen Zustand. Heute sind Estland, Lettland und Litauen souveräne Staaten.“
Für Stoltenberg steht fest, dass der Schlüssel zu einem gerechten Frieden in der weiteren westlichen Unterstützung liegt. „Nur wenn Putin erkennt, dass er auf dem Schlachtfeld nicht siegen kann, wird er zu echten Verhandlungen bereit sein“, sagte er. „Das erfordert Geduld, Einigkeit – und vor allem anhaltende militärische Hilfe für die Ukraine.“
Süddeustche Zeitung/PAP/jc