Deutsche Redaktion

Kommentar: Die Paradoxien des Parastaates

01.10.2025 11:00
Am Samstag, dem 20. September, ist nahe Gudauta im nicht anerkannten Abchasien – formal eine autonome Republik innerhalb Georgiens – der Historiker Stanisław Łakoba bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der Professor und Autor zahlreicher wissenschaftlicher wie populärwissenschaftlicher Publikationen über die Geschichte des Kaukasus war 72 Jahre alt. Ob er am Steuer kollabierte oder einschlief, ist unklar. Bis zuletzt zeichnete er sich durch eine Energie aus, die selbst Jüngere hätte neidisch machen können. Ein Kommentar von Wojciech Górecki, Analyst am Zentrum für Osteuropastudien (OSW).
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Bild:Shutterstock.com/Zhukov Oleg

Vor mir liegen einige seiner Werke. Besonders ins Auge fällt das 1990 in Suchumi erschienene Büchlein "Skizzen aus der politischen Geschichte Abchasiens" – 150 Seiten, gedruckt auf Zeitungspapier, in weichen Einbänden. Darin schilderte Łakoba unter anderem das Schicksal seines Verwandten Nestor Łakoba, des ersten sowjetischen Führers der Republik und zeitweiligen Freundes Stalins. Wahrscheinlich war es eben Stalin, der – Autor des Wortspiels „Ich – Koba (einer seiner Decknamen), du – Łakoba“ – 1936 dessen Ermordung anordnete. Literarisch setzte Nestor ein anderer bedeutender Abchaser ein Denkmal: Fazil Iskander, der fast den Literaturnobelpreis erhalten hätte. Stanisław Łakoba selbst hatte mehr Glück – obwohl auch er politische Verantwortung trug: zweimal als Chef des Sicherheitsrates des Parastaates und einmal als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten.

Bis vor kurzem existierten im Kaukasus drei Parastaaten – quasistaatliche Gebilde, die international kaum oder gar nicht anerkannt waren, ihre Territorien jedoch kontrollierten und von außen, meist von Russland, unterstützt wurden. Nach der Auflösung der Republik Bergkarabach in den Jahren 2020–23 blieben zwei übrig, beide in Georgien: Südossetien, das formal keinerlei Status besitzt und de iure nur ein Verwaltungsbezirk ist, sowie Abchasien. Letzteres ist ein Sonderfall. Die Abchaser sind dort die indigene Bevölkerung, sie verfügen über eine lange, reiche Geschichte und eine gefestigte Identität. Sie halten zu Russland – nach eigenem Bekunden, weil es die geringere Bedrohung darstellt als Georgien. Von Liebe zu Russland kann jedoch keine Rede sein. Ein abchasischer Bekannter kommentierte die russische Anerkennung Abchasiens nach dem Krieg 2008 spöttisch: „Bis jetzt waren wir unabhängig – ab jetzt sind wir anerkannt.“ Offene antirussische Politik ist dennoch ausgeschlossen.

Ich selbst betitelte einmal einen Text über Abchasien mit "Ein Land in Anführungszeichen". Denn beim Beschreiben dieses Separatistengebiets muss man selbst einfache Begriffe oft in Anführungszeichen setzen: Die „Amtssprache“ Abchasiens ist Abchasisch, doch fast alle sprechen im Alltag Russisch. Offiziell gilt der abchasische Apsar als Währung, fest im Kurs von zehn Rubel. Tatsächlich werden nur Gedenkmünzen geprägt, im Umlauf ist der Rubel – und faktisch das georgische Lari.

Politisch geht es in Abchasien lebendig zu. Es gibt freie Wahlen mit echter Konkurrenz, eine für Russland ungewohnte Pressefreiheit sowie unabhängige und oppositionelle Medien. Zwar scheint Moskau stets die Fäden zu ziehen, doch von Zeit zu Zeit setzt sich die lokale „Stammesdemokratie“ durch: Massendemonstrationen, die zu Regierungswechseln führen – manchmal gegen den Willen des Kreml. Der letzte solche Umsturz fand im Herbst 2024 statt: Präsident Aslan Bschania trat daraufhin zurück. Abchasien schafft es damit selten auf die Titelseiten der Zeitungen – vielleicht ist das sogar besser so. Denn die zweite Ebene der Politik zeigt oft deutlicher als die erste, dass die Welt selten in Schwarz und Weiß zu fassen ist.

Stanisław Łakoba gehörte zur ersten Generation der separatistischen Führer Abchasiens – einer Generation, die nun von der Bühne abtritt. Er war ein typischer Vertreter jener Eliten, die häufig aus Wissenschaftlern mit ungewöhnlich weitem Horizont bestanden. Der erste abchasische „Präsident“ war etwa ein renommierter Hethitologe. Łakoba selbst lehrte mehrere Jahre an der Universität Hokkaido in Japan. Seinen Vornamen verdankte er den Behörden des sowjetischen Georgien: In stalinistischer Zeit war es verboten, Kindern abchasische Namen zu geben. Eltern, die keine russischen oder kaukasischen Namen wollten, griffen nicht selten zu polnischen. So erhielt auch der genannte „Präsident“-Hethitologe den Vornamen Władisław.

Ruhe in Frieden, Stanisław Łakoba. Möge dir diese umstrittene, von Konflikten gezeichnete Erde leicht sein.


Autor: Wojciech Górecki

Wojciech Osiński ist leitender Spezialist im Team für die Türkei, den Kaukasus und Zentralasien am OSW. Autor von Reportagebüchern über den Kaukasus und Zentralasien.

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