Tusk betonte zugleich, er habe „keinen Zweifel, dass die Ukraine als unabhängiger Staat überleben wird“. Entscheidend sei nun die Frage, „wie viele Opfer wir noch bringen müssen“. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe ihm gesagt, er hoffe, der Krieg werde nicht zehn Jahre dauern, sei aber bereit, weiterzukämpfen.
Nach Einschätzung des Premierministers steht Russland vor tiefgreifenden wirtschaftlichen Problemen. „Russland hat keine Chance, langfristig zu überleben“, sagte Tusk. Die neuen US-Sanktionen gegen die russische Ölindustrie hätten die Lage weiter verschärft. „Die Russen haben ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten“, so Tusk. Dennoch warnte er davor, den Krieg als entschieden zu betrachten: „Das bedeutet nicht, dass wir gewinnen. Die Russen haben einen großen Vorteil gegenüber dem Westen – sie sind bereit zu kämpfen. Und das ist im Krieg entscheidend. Man kann nicht gewinnen, wenn man nicht bereit ist zu kämpfen oder etwas zu opfern.“
Warnung an Großbritannien
Tusk warnte Großbritannien, sich nicht in falscher Sicherheit zu wiegen. Das Land dürfe „nicht in der süßen Illusion leben“, im Falle eines Krieges zwischen Russland und der NATO verschont zu bleiben. Russland könne von Belarus oder Kaliningrad aus „ohne Schwierigkeiten“ eine Nuklearwaffe auf jede europäische Hauptstadt, auch auf London, abfeuern. „Die Bedrohung ist global und universell – vor allem wegen der eingesetzten Technologie“, sagte Tusk.
Der Premierminister wies zudem auf die Gefahr russischer Cyberangriffe hin: „Die Russen sind bereit, die Cyberinfrastruktur unserer Eisenbahnen und Krankenhäuser zu zerstören.“ Deshalb könne niemand behaupten, dass es sich „nicht um euren Krieg“ handle, fügte er hinzu.
„Ende der Ära der Illusionen“
Tusk sieht Europa an einem Wendepunkt. „Wir erleben das Ende der Ära der Illusionen“, sagte er. Es sei zwar „zu spät, um sich auf alle Gefahren vorzubereiten, aber nicht zu spät, um zu überleben“. Politik werde „immer eine Frage von Gewalt, Stärke, Grenzen und Interessenkonflikten bleiben“.
Polen rüste seine Streitkräfte massiv auf und werde bald „die größten konventionellen Streitkräfte in der EU“ haben, so Tusk. Er verwies zudem auf das Wirtschaftswachstum seines Landes: „Die Kaufkraft des durchschnittlichen Polen wird in diesem Jahr die Japans übertreffen – bald auch die Spaniens und Neuseelands.“
Die geopolitische Rolle Polens werde wachsen. „Der polnische Denkstil sollte zum gesamteuropäischen Denkstil werden“, sagte Tusk. Zugleich zeigte er sich irritiert über Politiker, die schon jetzt über eine Wiederannäherung an Russland nachdächten. „Für mich ist das immer ein Alarmzeichen.“
„Gemeinsam mit der Ukraine sicher“
Tusk sprach sich klar für eine Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO aus. „Das könnte den fatalistischen Glauben verändern, dass Polen, Ukrainer oder andere kleine Nationen regelmäßig Opfer der Deutschen oder Russen werden müssen“, sagte er. Polen habe die Chance, in den kommenden Jahren eine Führungsrolle in Mittel- und Osteuropa zu übernehmen. „Gemeinsam mit der Ukraine können wir wirklich sicher sein – und niemand, auch nicht Russland, wird uns etwas antun können.“
„Putin ist keine außergewöhnliche Persönlichkeit“
Zur Person des russischen Präsidenten Wladimir Putin äußerte sich Tusk abfällig. „Glaubt nicht, dass Putin eine außergewöhnliche Persönlichkeit ist, ein Magier mit Charisma oder Magnetismus“, sagte er. „Er ist eine völlig gewöhnliche Person. Gespräche mit ihm sind nicht interessant – es geht immer nur darum, wer mehr Macht hat und bereit ist, sie einzusetzen.“
Ein Abkommen mit Putin über die Ukraine sei aus seiner Sicht „nicht das Papier wert, auf dem es steht“. Solange sich Russland nicht grundlegend verändere, werde es „eine ständige, ewige Form des Krieges“ geben, so Tusk.
Sunday Times/jc