Kürzlich haben 28 demokratische Staaten, darunter auch Polen, Israel zur sofortigen Beendigung des Krieges im Gazastreifen aufgerufen. Der Grund: Eine humanitäre Katastrophe, die sich dramatisch zuspitzt. Mehr als hundert Menschen sind bereits an Hunger gestorben, die Zahl steigt. Internationale Organisationen wie die UN berichten, dass seit Monaten reguläre Hilfslieferungen blockiert werden. Israel weist diese Vorwürfe zurück und beschuldigt Kritiker pauschal des Antisemitismus.
Doch diese Strategie ist gefährlich. Wenn jede Kritik – auch solche von israelischen Holocaust-Historikern und Völkerrechtlern – als antisemitisch abgestempelt wird, verliert das Wort "Antisemitismus" an Bedeutung und Wirkung. Die Gefahr: Echte antisemitische Tendenzen könnten in der Debatte untergehen, verharmlost oder ignoriert werden.
In Gaza herrschen inzwischen katastrophale Zustände. Die Infrastruktur ist zerstört, Trinkwasser kaum noch vorhanden. Hilfsgüter erreichen die Menschen nur sporadisch, oft unter Lebensgefahr. Fast 60.000 Palästinenser sollen laut internationalen Quellen bereits gestorben sein – eine Zahl, die Israel bestreitet, jedoch gleichzeitig den Zugang für unabhängige Journalisten blockiert.
Was noch beunruhigender ist: Selbst viele Kritiker der israelischen Regierung unterstützen Pläne, die auf eine dauerhafte Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung hinauslaufen. Nach dem Vorschlag des Verteidigungsministers Israel Katz sollen zwei Millionen Menschen in Rafah konzentriert werden – mit nur einer Perspektive: das Gebiet für immer zu verlassen.
Internationale Kritik scheint kaum noch Eindruck zu machen. Europa spricht nicht mit einer Stimme, was Israels Regierung in ihrem Kurs bestärkt. Länder wie Deutschland, die sich historisch in einer besonderen Verantwortung sehen, tun sich schwer mit klarer Positionierung. Dabei wäre genau jetzt eine entschlossene, gemeinsame Linie Europas notwendig.
Denn das eigentliche Risiko für Israel liegt nicht nur in den kurzfristigen diplomatischen Folgen. Es besteht darin, dass das Land sein moralisches Kapital verspielt – jenes besondere Verständnis, das es in der Welt über Jahrzehnte aufgrund der Geschichte des Holocaust genossen hat. Wenn Israel jedoch zunehmend als Aggressor wahrgenommen wird, droht ein Wandel: vom Symbol für Überleben und Hoffnung zum Objekt globaler Kritik und Isolation.
Ohne Kurswechsel kann Israel seinen langfristigen Platz in der internationalen Gemeinschaft kaum sichern. Die Unterstützung der USA ist nicht garantiert – und ohnehin riskant, wenn sie zur einzigen tragenden Säule wird. Stattdessen wäre ein Dialog mit Europa entscheidend. Doch der funktioniert nur, wenn beide Seiten bereit sind, zuzuhören – und zu handeln.
Dr Witold Repetowicz
Witold Repetowicz ist Journalist, Kriegsberichterstatter, Analyst und Experte für den Nahen Osten, insbesondere für Themen rund um Syrien und den israelisch-palästinensischen Konflikt. Er ist bekannt für seine Reportagen aus Kriegsgebieten sowie für analytische Beiträge zu geopolitischen Entwicklungen in der Region.