Deutsche Redaktion

KZ-Überlebender Stanisław Zalewski im Interview

11.04.2022 19:51
Ein Gespräch mit Stanisław Zalewski (96), einem ehemaligen Häftling des KL Auschwitz und Mauthausen-Gusen und Vorsitzenden der Polnischen Vereinigung ehemaliger politischer Häftlinge der Hitlergefängnisse und Konzentrationslager. 
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  • Ein Gespräch mit Stanisław Zalewski und Jugendlichen
Stanisław Zalewski, in seiner 545-tgige Odyssee sa er zuerst im Pawiak-Gefngnis, dann wurde er nach Auschwitz deportiert und landete schlielich im KZ Mauthausen-Gusen im heutigen sterreich.
Stanisław Zalewski, in seiner 545-tägige Odyssee saß er zuerst im Pawiak-Gefängnis, dann wurde er nach Auschwitz deportiert und landete schließlich im KZ Mauthausen-Gusen im heutigen Österreich.Joachim Ciecierski

Joachim Ciecierski: Herr Zalewski, wie sah der Tag im Arbeistlager Gusen aus? 

Stanisław Zalewski: Das hing stark vom Arbeitsplatz ab. Im Messerschmitt-Kommando arbeiteten wir zehn Stunden am Tag. Wir standen um 5.00 Uhr auf, wir mussten die Betten ordentlich machen - am Anfang haben wir einzeln geschlafen. Dann gab es einen Morgenappell, dann Frühstück in Form einer Schüssel ungesüßten Kaffees mit einer kleinen Zugabe. Dann wurden wir zusammengerufen, in Arbeitskommandos eingeteilt und sind vom Lager zum Arbeitsplatz marschiert. Wir gingen zu fünft in gleichmäßigem Tempo. Am Tor zählte der SS-Mann die Häftlinge des vom Kapo geführten Kommandos. Mit dem Abendessen war es verschieden. Entweder wurde er zum Arbeitsplatz gebracht oder wir kehrten zum Essen in die Baracke ins Lager zurück. Man musste sehr schnell essen. Manchmal schafften es nicht alle rechtzeitig. Dann fuhren wir zur Arbeit und kehrten in den späten Nachmittagsstunden ins Lager zurück. Durchzählen am Tor, Umziehen in der Kaserne, wer etwas zum umziehen hatte, Abwaschen und sich zum Apell stellen. In Gusen gab es grundsätzlich Appelle aller Häftlinge auf dem Appellplatz. Nach dem Appell wurde das Abendessen ausgeteilt. Danach hatten die Häftlinge bis zum Läuten Freizeit. Nach dem Klang mussten alle schlafen gehen.


JC: Waren die Nächte ruhig? 

SZ: Glücklicherweise war ich in einer Baracke, in der es keine Übergriffe von SS-Männern und Kapos gab. Ich erfuhr aber von anderen Kollegen, dass SS-Männer abends hereinkommen und Häftlinge fangen konnten, die der Kapo wegen Arbeitsvermeidung notiert hat oder weil jemand seine Mütze falsch abgenommen hatte. 

JC: Ist ihnen das auch einmal passiert? 

SZ: Häftlinge bemerkten, dass sich in der Nähe unserer Straße von der Bahnrampe zur Produktionshalle ein Kartoffelfeld befand. Zwei oder drei, ich weiß es nicht mehr genau, sprangen vom Wagen und gruben eine Menge Kartoffeln aus. Als sie in der Halle ankamen, haben sie die Kartoffeln in den Ofen gesteckt, der zum Heizen des Raumes diente. Wir haben die Kartoffeln an einem Draht über dem Herd aufgehängt. Während des Mittagessens bat mich jemand, sie herauszunehmen, damit sie nicht anbrennen. Ich musste an einem Tisch vorbei, an dem zwei SS-Männer saßen. Wie vorgeschrieben, nahm ich meine Mütze ab, legte die Hände an die Hüften und ging im Paradeschritt weiter. Sie haben mich zurückgerufen. Beim Wiederholen der Schritte stellte mir einer der Sitzenden das Bein. Ein anderer SS-Mann stand auf, sprach etwas auf Deutsch, ich verstand nur, dass ich was falsch gemacht hatte. Er schlug mir mit aller Kraft ins Gesicht. Ich taumelte, schaffte es aber aufzustehen. Der zweite SS-Mann unterdessen sagte seinem Kollegen, dass er nicht wisse, wie man richtig zuschlägt. Er stand auf und schlug mich mit seiner Hand, so dass ich zu Boden fiel. Danach interessierten sie sich nicht mehr für mich. Der einzige Gedanke beim Aufstehen war die Angst, dass die Kartoffeln schon verbrannt sind. Der Hunger in einem Gefangenen entschied über alles. 


Stanisław Zalewski besucht das Arbeitslager Gusen I. / Foto: Joachim Ciecierski Stanisław Zalewski besucht das Arbeitslager Gusen I. / Foto: Joachim Ciecierski

JC: 545 Tage im Lager Mauthausen Gusen. Über 30 Tage in Auschwitz. Sie sagten, Sie hätten diese Zeit in einer wasserdichten Truhe eingeschlossen, die Sie auf den Grund des Ozeans geschickt haben. 

SZ: Ich habe sie versenkt. Aber ich habe eine Schnur an diese Truhe gebunden. Und diese Schnur ist an einem bestimmten Platz. Es war mit Absicht. Ich musste mich nämlich nach dem Lager erholen und wieder an der Oberfläche einer sozialen Schicht auftauchen. Davon hing meine materielle Existenz ab. Und das ist mir tatsächlich gelungen. Aber wenn es irgendwelche Gedenkfeiern gibt, öffne ich diese Truhe wieder und erzähle, worum man mich bittet. Ich spreche nicht von allem. Ich beantworte nur Fragen zu bestimmten Themen. Wenn ich damit fertig bin, werfe ich die Truhe zurück ins Wasser. Aber das gelingt nicht immer so wirklich richtig. Sobald alle Emotionen wieder weg sind, kommen einige Gedanken zurück. Und dann überwindet der Inhalt dieser Truhe die Absicherungen, das Wassers und dringt in meinen Geist ein. Er verursacht Verwirrung und Fragen, die ich nicht beantworten kann. Sie werden von damaligen Ereignissen diktiert, die aktuell in der Welt geschehen.

Im Lager und mit dem Tod vertraut zu sein war offensichtlich. Man wusste, warum und durch wen. Aber jetzt, bei dem, was in der Welt passiert, ist mir klar, dass die Menschen keine Schlüsse aus der tragischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs gezogen haben. Vor allem aus der Zeit, als es deutsche Nazi-Konzentrationslager gab. Im Namen eigener Zwecke oder für etwas anderes begeht man militärische Verbrechen und Gewalttaten gegen andere Menschen. Das führt zu Opfern. Es trägt die Kennzeichen des Völkermords. Und hier wiederholt sich die tragische Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Das ist für mich eine unangenehme Erinnerung. Dass wir gelitten haben - gut oder schlecht, richtig oder falsch - jetzt wiederholt sich das. 

JC: Sie sagen, es gibt viele Konflikte und Kriege auf der Welt. Der jüngste grausame Krieg findet mehrere hundert Kilometer von Warschau entfernt in der Ukraine statt. Wenn Sie heute Bilder aus der Ukraine sehen, verstehe ich, dass diese Kindheitserinnerungen immer wieder zu Ihnen zurückkommen. 

SZ: Das ist das tragische daran. Ich dachte, ich hätte diese Erinnerungen bereits vergessen. Ich habe meine Empfindlichkeit für das verloren, was mich selbst betraf. Aber es stellt sich heraus, dass das nicht stimmt. Als ich diese Nachrichten hörte, habe ich sie irgendwie verdaut. Als ich aber die zerstörten Häuser sah, die Leichen, die in den Straßen lagen, die Kinder, den Beschuss der Soldaten, in kleine Stücke zerschmetterte Panzer, Straßen voller Trümmer, abgerissene Häuser, erinnerte ich mich sofort an '39 und die Konzentrationslager. Für mich ein unbeschreibliches Gefühl. Ist es Bedauern oder Traurigkeit, oder ist es Wut darüber, dass es Menschen sind, die nicht in Frieden mit einander leben können. Die Menschen sollten in Harmonie und Frieden miteinander leben. Und wenn es Konflikte gibt, sollten diese gelöst werden. Ich weiß nicht wie, aber da war zum Beispiel der Völkerbund, der durchgefallen ist. Jetzt haben wir die Vereinten Nationen, die auch nicht so gut funktionieren. "Der Völkerbund berät über den Frieden mit Pausen für den Krieg". Dies war einst die Definition dieser Organisation. 


Nummer 156569 / Foto: Joachim Ciecierski Nummer 156569 / Foto: Joachim Ciecierski

JC: 40 Jahre nach Kriegsende kamen Sie zum ersten Mal nach Mauthausen, um das Konzentrationslager zu sehen, in dem Sie fast zwei Jahre verbracht haben. Sie sind mit Ihrem Sohn gekommen. Was haben Sie damals gesehen? 

SZ: Er hat mir das ein wenig aufgezwungen. Ich selbst wollte das nicht sehen. Als ich kam und es sah, sagte ich nichts. Nur mein Sohn fing an, mir Fragen zu stellen: Vater, wo ist die Kaserne? Vater, wo ist das Krematorium? Wo ist dein berühmtes Messerschmitt-Kommando? Aber als ich schöne Häuser stehen sah, Villen mit sauberen Straßen, wusste ich wirklich nicht, was ich ihm antworten sollte. 

JC: Sie sind stolze 96 Jahre alt, obwohl, wie Sie sagen, zwei Jahre Lager doppelt zählen. Sie sind also 100 Jahre alt. Sie setzen sich sehr dafür ein, das Wissen über diese schrecklichen Zeiten zu verbreiten. Sie treffen junge Menschen, reisen mit Vorträgen durch Europa. Was darf ich Ihnen wünschen. Ich weiß, Sie würden gerne erleben, wie das Lager Gusen in eine echte Gedenkstätte wie Auschwitz umgewandelt wird. 

SZ: Ein Ort der Erinnerung ist für mich - das können keine Denkmäler sein - wenn jemand, der nicht im Lager war, das Lager betritt, und sich sofort wie ein KZ-Häftling fühlt. So was lässt sich gestalten. Es gibt schließlich Vergnügungsparks. Wenn dort zum Beispiel die Hölle dargestellt wird und eine Person eintritt, fühlt sie sich wie in der Hölle. Das ist auch die Wahrnehmung, die man erleben sollte. 

JC: Sie haben zwei Jahre in KZs verbracht... 

SZ: 600 Tage um genau zu sein. In Gefängnissen und Lagern. Ich zähle hier die Verhaftung, den Aufenthalt im Pawiak (-Gefängnis), Verhöre in der Szucha-Allee, den Aufenthalt in Auschwitz und Mauthausen Gusen. Es waren genau 600 Tage. Zuerst habe ich es selbst nicht geglaubt, aber ich habe das mehrmals gezählt. Ich glaube an paranormale Phänomene. Und das ist für mich ein gewisses Signal. Als ich zum Beispiel an der letzten Untergrund-Mobilisierung teilnahm, traf ich meine Mutter im Hof. Sie fragte - wohin gehst du, Stachu? - Nicht der Rede wert Mama. Ich werde nicht zurückkommen, und in zwei Jahren ist der Krieg vorbei. Nach genau 2 Jahren und 52 Tagen kehrte ich an denselben Ort zurück. Ich habe es mit einem Kalender in der Hand gezählt. Als meine Mutter starb, war sie 52 Jahre alt. Sie wurde während des Warschauer Aufstands von einem Splitter einer Artilleriegranate tödlich verletzt. 

In dem Krematorium in Gusen wurden 37 Tausend Menschen verbrannt / Foto: Joachim Ciecierski In dem Krematorium in Gusen wurden 37 Tausend Menschen verbrannt / Foto: Joachim Ciecierski

JC: Leider hat sie Ihre Rückkehr nicht mehr erlebt. 

SZ: Ich hatte diesen braunen Anzug. Ich war Mutters ungeschriebenes Lieblingskind. Sie trug immer diesen dunklen Anzug, wenn sie während des Aufstandes unterwegs waren. Sie sagte immer, wenn Stachu zurückkommt, muss er etwas zum Anziehen haben. Leider kam ich zurück, der Anzug blieb, aber ich habe ihn nicht getragen. Erst nach mehreren Jahren habe ich es irgendwie geschafft, ihn anzuziehen. 

JC: Ihre Mutter und Ihr Bruder haben nicht überlebt. Aber Sie haben auch dank ihnen überlebt. Der Gedanke, dass Sie aus dem Krieg zurückkehren und sie wiedersehen würden, hat Ihnen den Willen zu überleben gegeben. 

SZ: So war das…


Das Interview finden Sie auch als Audio ergänzt mit Aussagen von österreichischen Jugendlichen.