Deutsche Redaktion

Normale und “anormale” Familien

24.09.2019 08:00
Das Thema Familie dominiert weiterhin die Wochenzeitungen. Nachdem wir letzte Woche die Kritik der nationalkonservativen Wochenzeitung “Do Rzeczy” an selbsternannten Sexualerzieherinnen zitiert haben, die laut dem Blatt, das traditionelle Familienmodell gefährden, antworten linksliberale Wochenblätter diese Woche mit Interviews mit Soziologen. 
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Das Thema Familie dominiert weiterhin die Wochenzeitungen. Nachdem wir letzte Woche die Kritik der nationalkonservativen Wochenzeitung “Do Rzeczy” an selbsternannten Sexualerzieherinnen zitiert haben, die laut dem Blatt, das traditionelle Familienmodell gefährden, antworten linksliberale Wochenblätter diese Woche mit Interviews mit Soziologen. 

 

Polityka: Normale und "anormale" Familien

In einem Gespräch mit dem linksliberalen Wochenblatt “Polityka” kritisiert Soziologe dr hab Mikołaj Pawlak von der Warschauer Universität den Begriff der “normalen Familie”, auf den sich die konservativen Parteien in der Debatte so gerne berufen. Was normal und was eine Deviation sei, so Pawlak, sei nirgendwo in Stein gemeißelt. Das entscheide jede Gesellschaft für sich. Und die Tatsache, dass nicht-heteronormative Personen nicht nur um eingetragene Partnerschaften kämpfen, sondern auch darum, Ehen schließen zu dürfen, betrachte er nicht als Gefahr für die Familie, sondern vielmehr als einen Beweis für die Stärke und Attraktivität der Familie als Institution. Und er glaube nicht, dass Änderungen im Verständnis und in der Praxis des Familienlebens zu einer Zerstörung der Gesellschaft führen werden.

Wenn von Tradition die Rede sei, so der Wissenschaftler, dann greife er gerne auf die Definition von Tradition von Max Weber zurück. Laut Weber sei Tradition die Vorstellung der Vergangenheit, die dazu genutzt werde, auf die Gegenwart Einfluss zu nehmen, auch wenn sie meistens nicht viel damit zu tun habe, wie die Vergangenheit wirklich ausgesehen habe. Tradition sei also kein Ausdruck des Respekts für die Vergangenheit, sondern ein Machtinstrument, das bestimmte Lösungen legitimieren soll. So könne die Berufung auf eine mythische, traditionelle Familie unter anderem dazu dienen, nicht-heteronormativen Personen die Chance zu nehmen, Ehen zu schließen und Kinder aufzuziehen. Interessant sei in diesem Kontext, dass in Großbritannien die konservative Regierung solche Ehen legalisiert habe und Ministerpräsident David Cameron diese Entscheidung mit einer Bindung an konservative Werte begründete, deren Ausdruck eben die Sorge um die Familie sei. Er sei sich sicher, dass die Familie als Institution die Manipulationen der Politiker und aggressive Versuche, gegen Änderungen anzukämpfen, überdauern werde, so Mikołaj Pawlak im Interview mit “Polityka”. 

 

Przegląd: Die traditionelle Familie ist ein Mythos

Auch laut Professor Tomasz Szlendak von der Kopernikus-Universität in Toruń ist die so genannte traditionelle Familie ein Mythos. Wie Szlendak im Interview für das linksliberale Wochenblatt Przegląd beobachtet, habe es in der Vergangenheit sehr unterschiedliche funktionierende Familienmodelle gegeben. Im Angriff auf LGBT gehe es, seiner Meinung nach, daher vor allem um die Verteidigung des religiösen Lebensstils, in dem die Geschlechterrollen klar definiert sind. In unserem Kulturkreis, so Szlendak, habe man die Modelle des Familienlebens viele Jahre lang an dem biblischen Modell von Adam und Ewa sowie ihren Kindern orientiert. Mit der Entwicklung der Kultur-Antropologie habe sich jedoch herausgestellt, dass es weltweit viele alte Gesellschaftssysteme gibt, in denen das Familienmodell - Mutter, Vater, Kinder - völlig unverständlich wäre und als unnatürlich empfunden würde. So wäre es etwa für die in China lebenden Mosuo Irrsinn, dass zwei Sexualpartner, die gegensätzliche genetische Interessen haben, unter einem Dach leben. In einer solchen Situation, so die Logik, seien ewige Streitereien, die das Familienleben untergraben unvermeidbar. Für Vertreter dieser Kultur sei es offensichtlich, dass die nächste Person für die Frau ihr Bruder beziehungsweise Cousin bleibt, der gleichzeitig auch der Betreuer ihrer Kinder ist. Das, mit wem sie gezeugt gewesen seien, sei zweitrangig. Mit der Entdeckung dieser Kultur, so Szlendak, hätten die Wissenschaftler verstanden, dass das in Europa im XIX. und XX Jahrhundert gängige Familienmodell weder am ältesten, noch am besten sei.

Und wenn man die traditionelle Familie als patriarchal definieren wollen würde, in der die Frau nicht berufstätig sei, dann würde sich herausstellen, dass es nur ein wenig über 10 Prozent solcher Familien in Polen gibt. Und das nur dann, wenn der Mann wirklich viel verdiene. Also in der gehobenen Klasse. Dann arbeite die Frau nicht und könne sich vier, fünf Kinder leisten. In der Mittelschicht würden indes immer weniger Kinder zur Welt kommen. Dabei würden die reichen Mütter keine Hausarbeiten verrichten. Sie hätten Hilfskräfte zum Putzen, Kochen und zur Kinderbetreuung. Sei dies wirklich das traditionelle Modell, das die Konservativen meinen, fragt der Soziologe? Die Realität, so Szlendak weiter, sei, dass sowohl Frauen, als auch Männer heute berufstätig sein müssen. Und daher würden mittlerweile auch Männer zunehmend traditionell als Frauenbeschäftigung angesehene Tätigkeiten übernehmen, wie etwa die Betreuung von Kindern. Vor 20 Jahren habe der Vater täglich durchschnittlich 8-15 Minuten mit dem Kind verbracht, heute ist es über eine Stunde, so Professor Tomasz Szlendak im Interview für Przegląd. 


Autor: Adam de Nisau