Deutsche Redaktion

Gesellschaft der bewußtgewordenen Krise

25.09.2019 08:00
In einem Interview für das Wochenblatt Plus Minus analysiert Germanist und Politologe Marek Cichocki die aktuelle Situation in Deutschland. Newsweek thematisiert indes das Problem der Überarbeitung in der polnischen Gesellschaft.
Ein Blick in die Tageszeitungen und Wochenmagazine
Ein Blick in die Tageszeitungen und Wochenmagazinepixabay.com

Plus Minus: Gesellschaft der bewußtgewordenen Krise

In einem Interview für das Wochenblatt Plus Minus analysiert Germanist und Politologe Marek Cichocki die aktuelle Situation in Deutschland. Anlass für das Interview sind Studien, laut denen immer mehr Deutsche ihre Zukunft außerhalb ihrer Heimat sehen. Die Tatsache, dass immer mehr Mitglieder der Mittelschicht deklarieren, das Land verlassen zu wollen, so Cichocki im Gespräch mit Plus Minus, deute darauf hin, dass wir es westlich der Oder mit dem Ende einer Ära zu tun haben. Die Mittelschicht, lesen wir weiter, gelte als wichtiger Stabilisator der politischen Szene, denn es sei diese Schicht, die die Wirtschaft antreibe, aber auch auf gemäßigte Politiker sowie Sicherheit wähle und Träger liberaler Ideen sei - in der Politik und in der Wirtschaft. Heute neige sich daher das bisherige wirtschaftlich-gesellschaftliche Modell in Deutschland, auf dem die Bundesrepublik ihren Erfolg und ihre starke Position in Europa stützte, dem Ende zu. Dank ihrem wirtschaftlichen Erfolg, so Cichocki weiter, hätten die Deutschen lange Zeit das Image einer Gesellschaft aufrecht erhalten, deren Entwicklungsmodell auch für andere Gesellschaften in der EU als Beispiel dienen sollte. Gewisse Hoffnungen seien mit der Energiewende verbunden gewesen. Doch das Resultat dieses Projekts sei unsicher. Ein herber Schlag sei in diesem Kontext zweifellos die Emmissionsaffäre bei VW gewesen. Sie habe nicht nur die Interessen einer zwar riesigen, aber dennoch privaten Firma untergraben, aber auch dem Image der ganzen deutschen Industrie in den USA und Europa geschadet. Und im Bewußtsein der Deutschen selbst habe sie an der Überzeugung gerüttelt, dass ihr System korrekt funktioniert. All das habe dazu geführt, dass die Deutschen eine Gesellschaft der bewußt gewordenen Krise geworden sind. Denn vor dem Hintergrund der Krisen außerhalb Deutschlands - der Eurokrise, der Migrationskrise, dem Brexit oder den Änderungen in Osteuropa - wachse jenseits der Oder auch das Gefühl, dass die politische Szene der Bundesrepublik all diesen Herausforderungen nicht mehr gewachsen ist. Dass es keine Konsolidation geben werde, die den Bürgern garantierte, dass der Staat auf diese Gefahren richtig reagiere. 

Das tatsächliche Problem, so Cichocki, sei hierbei nicht das Ende der Hegemonie Deutschlands in der EU an sich. Diese Vormachtsstellung sei vor allem das Ergebnis der Finanzkrise und auf keinen Fall ein Modell gewesen, dass fortgesetzt werden sollte. Vielmehr gehe es darum, in welchem Maße die Bundesrepublik in der Lage sein werde, sich in der neuen Situation zurechtzufinden und ihr politisches und gesellschaftliches Modell so an die neuen Herausforderungen anzupassen, dass dies keine neuen Konflikte in Europa hervorruft und Deutschland nicht erneut zum größten Problem Europas werden lässt, so Marek Cichocki im Interview für Plus Minus. 



Newsweek: Die Überforderten

Über die wachsende Überarbeitung der Polen ist in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Newsweek zu lesen. Wie das Blatt berichtet, kann man mittlerweile schon 11 Millionen berufstätige Polen als TATT - das heisst tired all the time, also ständig müde - qualifizieren. Zudem wachse in Polen auch dynamisch die Zahl der Unausgeschlafenen - in den 90. Jahren, erinnert das Blatt, habe noch jeder vierte, Anfang dieses Jahrhunderts jeder dritte und knapp die Hälfte der Polen mehr oder weniger ernsthafte Probleme mit der Schlafqualität. Davon leide jeder 10. an schwerer chronischer Schlaflosigkeit. Das, so Newsweek, sei ein direkter Weg zu Änderungen im Gehirn, metabolischen Störungen, Übergewicht, Diabetes und Depression. Besonders betroffen, lesen wir weiter, seien Ärzte, Krankenschwestern, Polizisten, Lehrer. “Von ihnen fordert man mehr”, erklärt im Interview mit Newsweek der Landeskonsultant für Psychiatrie Professor Piotr Gałecki. ”Man”, so Gałecki, “lässt den Gedanken nicht zu, dass Vertreter dieser Berufe Überstunden ablehnen. Von einem Arzt erwartet man, dass er sein Skalpell nicht beiseite legt, nur weil es 15.00 Uhr ist. Vom Lehrer, dass er die Schüler in seiner Klasse nicht im Stich lässt. Die Erwartungen sind immer höher und die Systeme, in denen diese Berufsgruppen arbeiten definieren keine Obergrenzen. Da müsste man interne Grenzen setzen, was nicht einfach ist. Besonders wenn man ehrgeizig ist und sich mit seiner Arbeit identifiziert. Der Lehrer wird also zusätzlichen Unterricht annehmen und dazu an fortführenden Studien teilnehmen. Der Arzt wird zu viele Dienste akzeptieren und dazu noch ein Doktorat und eine Habilitation anstreben”, so Gałecki. 

So würden, wie das Wochenblatt weiter berichtet, laut der Obersten Ärztekammer, wegen dem Mangel an Medizinern im Lande, polnische Ärzte durchschnittlich an drei Orten arbeiten. Alle zusammen würden über 10 Millionen Überstunden machen. “Viele nehmen an sogenannten “Gesundheitsspaziergängen” teil”, verrät Tomasz, ein Arzt aus Westpommern. “Dabei beginnt man mit einem Dienst am Freitag, dann verlässt man die Abteilung und geht sofort auf einen 24-Stunden-Dienst in der nächtlichen ärztlichen Hilfe, danach kommt der nächste Nachtdienst und zur Abrundung abschließend noch ein weiterer Dienst in der Abteilung. Damit ist man von 8 Uhr morgens am Freitag bis 8 Uhr morgens am Dienstag pausenlos in der Arbeit”, so Tomasz. Einmal, erinnert er sich, sei er bei der Rückkehr vom Krankenhaus hinter dem Steuer eingeschlafen. “Ich wäre beinahe vom Viadukt gefallen. Ich bin in letzter Sekunde aufgewacht”. Seitdem arbeite er weniger, aber weiterhin mehr als er wollen würde. Das System erzwinge das. Sonst könnte man nicht alle Dienste im Krankenhaus füllen, so Tomasz im Interview mit Newsweek.  


Autor: Adam de Nisau