Deutsche Redaktion

Erwartet uns ein Ausnahmezustand?

13.10.2020 12:18
Wird Polen dem Beispiel der Slowakei und Tschechiens folgen und einen Ausnahmezustand einführen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, fragt im Aufmacher der heutigen Ausgabe die linksliberale Gazeta Wyborcza. Außerdem geht es auch um die Frage, ob die Schulen alle auf Fernunterricht umschalten sollten und wer eigentlich das Erbe Europas verwaltet.
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Zdjęcie ilustracyjneOksana Kuzmina/shutterstock

Gazeta Wyborcza: Erwartet uns ein Ausnahmezustand? 

Wird Polen dem Beispiel der Slowakei und Tschechiens folgen und einen Ausnahmezustand einführen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, fragt im Aufmacher der heutigen Ausgabe die linksliberale Gazeta Wyborcza. Und erinnert, dass die Slowakei am 1. Oktober und Tschechien am 5. Oktober einen Ausnahmezustand eingeführt hatten.

Die Gesprächspartner aus dem Umfeld von Premierminister Morawiecki, lesen wir im Artikel, würden harte Deklarationen meiden. “Alle Szenarien sind möglich, aber derzeit gibt es keine Pläne, so weitreichende Einschränkungen einzuführen”, so ein Mitarbeiter des Regierungschefs. Auch Morawiecki selbst habe am Montag eingeräumt, dass er ein Gegner radikaler Lösungen, wie etwa eines erneuten Lockdowns sei, da sich das auf die finanziellen Möglichkeiten des Staates negativ auswirken würde. Besser seien selektive Lösungen, wie etwa die radikale Einschränkung von Versammlungen. Geht es nach der Opposition, wäre die Einführung eines Ausnahmezustands jetzt vor allem eine PR-Masche, die von bisherigen Versäumnissen ablenken sollte. “Davon etwa, dass die Regierung die letzten fünf Monate vergeudet und sich nicht auf die zweite Welle im Herbst vorbereitet hat. Stattdessen hat sich der Kampf der Regierung gegen das Virus auf Pressekonferenzen beschränkt, mit denen sie versucht die Narration zu kontrollieren”, so einer der Oppositionspolitiker im Gespräch mit der Gazeta Wyborcza.

 

Gazeta Wyborcza: Sollten die Schulen geschlossen werden? Pro und Kontra

Sollten die Schulen im Lande vor dem Hintergrund der sich verschärfenden epidemiologischen Lage geschlossen werden?

Ja, meint die Publizistin der Gazeta Wyborcza, Anna Dobiegała. Täglich, so die Autorin, würden uns Nachrichten von weiteren Ansteckungen unter Schülern und Lehrern erreichen, von Klassen, manchmal ganzen Schulen, die auf Fernunterricht umschalten müssten. Von Problemen in Familien, die auf Quarantäne geschickt werden, da das Kind Kontakt zu jemandem hatte, der angesteckt gewesen sei. Und schließlich auch von ersten Todesfällen unter Lehrern. Daher sollten die Schulen, so die Autorin, so schnell wie möglich geschlossen werden. Es gebe keine Möglichkeit, die soziale Distanz in Schulen einzuhalten, die Regierung habe die Bildungseinrichtungen nicht einmal dazu verpflichtet, beim Betreten der Schule, Temperaturmessungen durchzuführen. All das verwandle Schulen in tickende Zeitbomben. Bomben, die wie die neuesten Ansteckungsrekorde zeigen würden, nicht nur ticken, sondern auch explodieren würden. Eine Schließung der Schulen könnte manch einem das Leben retten und das sollte jetzt das Wichtigste sein, so Anna Dobiegała in ihrer Stellungnahme. 

Anderer Meinung ist der Publizist des Blattes Mateusz Kokoszkiewicz. Der Appell, alle Schulen zu schließen, so der Autor, sei ein typisches Beispiel für die Sehnsucht nach zentraler Verwaltung. So könne man keinen 38-Millionen-Staat managen. Nicht ohne Grund sei Polen in 16 Woiwodschaften und 2477 Gemeinden aufgeteilt. Denn an verschiedenen Orten seien die Bedürfnisse eben unterschiedlich. Die Einteilung des Landes in gelbe und rote Zonen, so der Publizist, sei eine gute Entscheidung. Aber auch die Lehrer und Kommunen sollten mehr zu sagen haben. Denn erst konkrete Ansteckungszahlen würden eine solide Grundlage für Entscheidungen über Hybrid- oder Fernunterricht geben. So habe Schweden etwa nur Lyzeen geschlossen, während Kindergärten und Grundschulen normal funktionieren würden. Dadurch könne man etwa die Schüler in den offen gebliebenen Schulen auf größerem Raum verteilen, so dass beispielsweise nicht 400, sondern 100 Familien auf Quarantäne geschickt werden müssen. Er würde es bevorzugen, wenn die Kommunen, Schulen und lokalen Sanitärbehörden über den Prozess wachen würden. Die Regierung sollte zwar helfen, aber nicht alles per Hand steuern, so Mateusz Kokoszkiewicz in der Gazeta Wyborcza. 

 

Tysol.pl: Die ewige Besserwisserei der Westeuropäer

Das nationalkonservative Internetportal tysol.pl greift indes ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Professor Berthold Löffler aus dem Südkurier auf, in dem der Osteuropa-Experte die Migrationspolitik der Regierung in Warschau und Budapest verteidigt.

In dem Gespräch, das unter dem Titel "Die ewige Besserwisserei Westeuropas" erschienen ist, erklärt Löffler, der selbst lange in Polen gelebt hat, wieso Staaten wie Polen oder Ungarn die EU auf dem Holzweg sehen. Gefragt danach, ob er Verständnis dafür habe, dass die Länder Osteuropas keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, antwortet der Wissenschaftler: “Absolut, denn Politik sollte zunächst die Interessen des eigenen Landes vertreten. Genau das tun die Regierungen in Warschau oder Budapest. Aber die Osteuropäer haben auch Europa im Blick. Auch aus dieser Sicht halten sie die Politik von Angela Merkel für naiv und perspektivlos."

Gerade aus osteuropäischer Sicht, so Löffler weiter, sei die EU eine Wertegemeinschaft! Die Frage sei nur: Wer definiere die Werte? Die meisten westeuropäischen Politiker würden sich den Osteuropäern moralisch überlegen fühlen, weil sie deren Kultur für zurückgeblieben halten. Sie würden sich deshalb berechtigt fühlen, die gemeinsamen Werte einseitig festzulegen. Und erwarten, dass sich Osteuropa ohne Widerrede fügt. Und diese Erwartung würde in Osteuropa auf Ablehnung stoßen. Osteuropäer seien nicht weniger gute Europäer als die im Westen. Aber sie würden halt nicht mehr EU, sondern eine bessere EU wollen. “Die Osteuropäer wollen auch zukünftig in ihren Nationalstaaten leben. Sie sind nicht der EU beigetreten, um die Moskauer Vorherrschaft gegen eine Brüsseler Bevormundung einzutauschen”, zitiert das Internetportal Tysol.pl Berthold Löffler. Das ganze Original-Interview im Südkurier finden Sie hier.


Autor: Adam de Nisau