Deutsche Redaktion

Kann man ohne Grenzen existieren?

06.09.2021 11:26
Es sei wichtig, die Beziehung zwischen der Verteidigung der eigenen Grenzen und der Verantwortung für die eigene Existenz zu verstehen, schreibt der Politologe und Philosoph Marek A. Cichocki in einem Kommentar für die Rzeczpospolita am Montag.
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Rzeczpospolita: Selbstvergiftung

Keine Grenzen! Dieser Slogan sei zur Grundlage einer Kultur geworden, die die Denkweise der westlichen Gesellschaften seit mehreren Jahrzehnten prägen soll. Seit drei Jahrzehnten gestalte sie auch die Sichtweise der nachfolgenden Generationen von Polen auf die Welt. Es sei eine Kultur, die das Wesen der menschlichen Freiheit in der unbegrenzten Kritik und im Widerstand gegen jede Form von Autorität sehe. Die Verwirklichung des Ideals der Abschaffung aller Grenzen habe jedoch weitreichende, konkrete Auswirkungen auf die gesamte Politik, das gesellschaftliche Leben und die Kultur.

Könne man wirklich ohne Grenzen existieren, fragt Cichocki. Er wisse zwar, dass Philosophie heute aus der Mode gekommen sei aber wenn es um die Bedeutung von Grenzen gehe, lohne es sich, zu einem alten, aber sehr aktuellen Text des polnischen Philosophen Leszek Kołakowski, "Die Selbstvergiftung einer offenen Gesellschaft", zu greifen. Kołakowski habe darin gegen Karl Popper und seine Idee der offenen Gesellschaft polemisiert, indem er behauptete, dass jede Gesellschaft, jeder Staat und jede Kultur innerhalb ihrer eigenen Grenzen in sich geschlossen bleibe, um ihren Sinn nicht zu verlieren.

Ginge es nach Kołakowski, könne der Mensch zwar im Namen höherer Ideen versuchen, diese Grenzen in bestimmten Situationen zu überschreiten, aber, heißt es weiter, könne er dies nicht auf Kosten der Fähigkeit der Gemeinschaft tun, sich zu verteidigen. Andernfalls würde er zu ihrer Vernichtung führen. Dieser alte Streit zwischen Philosophen, so Cichocki, gewinne in der heutigen Realität an Aktualität und sogar an Prophetie. Große Ereignisse mit enormen Auswirkungen auf unser Leben - wie Pandemien, Migrationen, neue globale Konflikte und Rivalitäten - würden uns erneut mit dem Gewicht der Realität konfrontieren und die wahre Bedeutung von Grenzen bewusst machen. Dies bedeutet aber nicht, glaubt der Autor am Schluss, dass man sofort alle höheren Vorstellungen von Menschlichkeit aufgeben und sich fest in die eigene Welt einschließen müsse. Aber würde man alle Grenzen aus der Welt entfernen, lautet Cichockis Fazit in der Tageszeitung, dann würde die Welt dadurch nicht besser werden, sondern wir würden uns selbst zerstören.


Gazeta Polska Codziennie: Der innere Aggressor

Das Regierungsnahe Wochenblatt GPC indes schreibt, dass der Kreml derzeit die Reaktion Polens auf eine bedrohliche Situation an seinen Grenzen auslote. Moskau untersuche die Reaktion der polnischen Spezialdienste, ihre Arbeitsmethoden und vor allem die Möglichkeit, wie man die öffentliche Meinung in Polen am besten beeinflussen könne. Dies sei ein sowjetisches Operationsmodell, das in vielen Konflikten bereits geprobt worden sei.

Während des Vietnamkriegs, habe Russland mehr für Propaganda und die Manipulation der westlichen Bevölkerung ausgegeben als für rein militärische Maßnahmen. Heute sei die gesamte Sphäre der sozialen Medien und die Beschleunigung der Informationsverbreitung über das Internet und Smartphones zu den altbewährten Methoden hinzugekommen. Auch die Einbeziehung von Prominenten des öffentlichen Lebens bleibe nach wie vor von unschätzbarem Wert. Ihre Stimme und ihre Aktionen, heißt es weiter, würden das öffentliche Interesse wecken und die Möglichkeit bieten, eine fremde Agenda durchzusetzen. Wie sehe somit der Ablauf der Übungen an der polnisch-weißrussischen Grenze aus, fragt das Blatt.

Vor allem blende die Darstellung der Sinnlosigkeit der Grenzverteidigung und der Entschlossenheit der polnischen Behörden, die Staatsgrenze zu verteidigen, als eine primitive, menschenfeindliche Haltung. Die gesamte Medienfront, so das Wochenblatt, die an dem Projekt beteiligt sei, korrigiere alle veröffentlichten Inhalte genau und stelle sie in den erwünschten Kontext. Es stelle sich somit die Frage: Hätte die russische Aktion "made by Belarus" den Organisatoren ohne die Beteiligung von Politikern, Medien und Promis einen solchen Gewinn gebracht? In Polen, überzeugt GPC, sei die Beteiligung interner Faktoren überdurchschnittlich hoch gewesen. Im benachbarten Litauen, lesen wir, sollen Parlamentarier in derselben Krisensituation nicht den Armeekordon gestürmt, oder allgemein gegen das Gesetz verstoßen haben. In Polen sei aber genau dies unter dem Beifall der Medien und vieler Promis geschehen.
Das regierungsnahe Wochenblatt fragt deshalb abschließend, wie sich solche Personen im Moment einer realen Bedrohung der Unabhängigkeit Polens verhalten würden? Wie würde ihr Verhalten sich auf die Moral und die Entschlossenheit vor allem der jüngeren Generation der Polen auswirken, wenn es darum ginge für die Erhaltung einer angegriffenen Grenze zu kämpfen, so wie es der Fall in der Ostukraine war?


Piotr Siemiński