Deutsche Redaktion

“Polexit hat begonnen” vs. “Polen ist unabhängig und demokratisch”

08.10.2021 11:55
Wichtigstes Thema in den Pressekommentaren ist das gestrige Urteil des Verfassungsgerichts zum Vorrang von nationalem Recht vor EU-Recht. 
Trybunał Konstytucyjny
Trybunał Konstytucyjnymishelo0/Shutterstock

Rzeczpospolita: Noch kann man den Verbleib in der EU wählen

Die Verfassung bleibe der ranghöchste Rechtsakt in Polen und habe Vorrang vor EU-Recht. Verfassungswidrig seien auch Versuche von EU-Institutionen, ihre Kompetenzen über das hinauszuweiten, was in den Traktaten vereinbart worden sei. Das sei der Kern des gestrigen Urteils des Verfassungsgerichts, schreibt in seinem Kommentar für die konservativ-liberale Rzeczpospolita der Publizist Tomasz Pietryga. Trotz zweier Gegenstimmen zum Urteil, so der Autor, handle es sich um eine sehr entschiedene Stellungnahme, die die Politik der polnischen Regierung in Bezug auf Brüssel weiter verschärfen und den Konflikt weiter anheizen könnte. Innenpolitisch könne es dazu genutzt werden, Richter zu disziplinieren, die sich bisher in Bezug auf die Justizreform auf Urteile des EU-Gerichtshofs berufen hätten. Die Haltung der EU werde das Urteil jedoch nicht ändern. Hier würde der Großteil der Staaten eindeutig auf Seiten des EU-Gerichtshofs stehen. Er hoffe, dass der eurorealistische Teil des Regierungslagers dieses Urteil als ernsthaftes Warnsignal interpretieren und erkennen wird, dass sich Polen nun auf einem Scheideweg befindet. Einer der Wege könne zu einem Austritt aus der Gemeinschaft führen. Man könne aber auch einen anderen Weg gehen und überall dort wo es möglich sei, Kompromisslösungen finden, so Tomasz Pietryga in seinem Kommentar für die Rzeczpospolita. 

Gazeta Wyborcza: “Polexit hat begonnen”

Damit zu einem Blick auf die zwei radikal entgegengesetzten Auslegungen des Urteils aus der oppositions- und der regierungsnahen Presse. 

Der Polexit hat begonnen, titelt ihren heutigen Aufmacher die linksliberale Gazeta Wyborcza. Das von der PiS kontrollierte Verfassungsgericht, lesen wir, habe entschieden, dass die EU-Traktate nicht mit der Verfassung vereinbar sind. Das Urteil, so das Blatt, soll die umstrittenen Justizreformen der Regierungspartei festigen. Die PiS habe die Unabhängigkeit der Gerichte in den letzten Jahren systematisch beschnitten und Personen in das System eingeschleust, deren Unabhängigkeit zweifelhaft sei. Morawiecki wolle die Änderungen mit seinem Vorstoß an das Verfassungsgericht nun zementieren und ihre Beurteilung aus der Perspektive von EU-Standards vereiteln, so Gazeta Wyborcza. 

Gazeta Polska Codziennie: “Polen ist unabhängig und demokratisch”

Die regierungsnahe Gazeta Polska Codziennie bildet auf ihrem Titelblatt indes die Chefin des Verfassungsgerichts Julia Przyłębska in würdevoller Pose ab. Der Kommentar zum Foto. Laut dem Verfassungsgericht sei Polen ein unabhängiger und demokratischer Staat. Der Vorrang des nationalen Rechts vor EU-Recht sei direkt in der Verfassung verankert, weswegen EU-Recht nie über der Verfassung stehen könne. Die Brüsseler Beamten, so Publizist Adrian Stankowski, würden damit kein Mandat mehr haben, Regierungen souveräner Staaten anzuprangern. Das Recht auf politische Beurteilung stehe allein den Bürgern im Rahmen demokratischer Prozeduren zu. Freie Bürger sollten einen Schutzschild erhalten, der vor der Zügellosigkeit der EU-Bürohengste schütze, auch derjenigen in Richterroben, so Stankowski in der Gazeta Polska Codziennie. 

Rzeczpospolita: Verbündeter der Kategorie B

Und noch kurz aus der Rzeczpospolita eine Analyse zum Einfluss des Tauziehens um die Rechtsstaatlichkeit auf die transatlantischen Beziehungen. Auf der Linie Warschau-Washington hätten sich die Verhältnisse letzterzeit deutlich abgekühlt, beobachtet der Publizist Jędrzej Bielecki. Außenminister Zbigniew Rau warte seit Wochen auf eine Einladung von Staatssekretär Antony Blinken, bisher ohne Erfolg. Laut dem Umfeld des Staatspräsidenten, habe sich Andrzej Duda inzwischen damit abgefunden, dass er in absehbarer Zukunft das Weiße Haus nicht besuchen werde. Seit dem 20. Januar hätten die USA keinen Botschafter in Warschau mehr. Diese Kühle sei eine Folge der Einschätzung der Amerikaner, laut der Polen die Regeln der Rechtsstaatlichkeit nicht befolgen wolle. Für US-Präsident Biden sei dies ein Thema von kardinaler Bedeutung, denn er selbst fürchte, dass Trump die Demokratie in den USA stürzen werde. Noch würden die USA zwar signalisieren, dass Polen eine Einladung auf den Dezember-Gipfel der Demokratie erhalten werde - eine Einladung die Ungarn etwa nicht erwarten könne. Doch laut einer Quelle in Washington marschiere Polen derzeit entlang einer Kluft, in die Ungarn schon gestürzt ist, so Jędrzej Bielecki in der Rzeczpospolita. 

Autor: Adam de Nisau