Rzeczpospolita: Kriegszustand an der Grenze
Seit dem Beginn der Migrationswelle hätten noch nie so viele Menschen auf einmal versucht, die polnische Grenze zu überschreiten, wie in den letzten Tagen. Es sei die ernsthafteste offene Konfrontation in unserem Teil Europas seit einigen zig Jahren, schreibt die Rzeczpospolita. Auf der belarussischen Seite der Grenze seien am Montag einige Tausend Migranten, angeführt von maskierten Funktionären von Alexander Lukaschenka, vor den Grenzzaun zu Polen marschiert. Es komme zu Versuchen, die Grenze mit Gewalt zu forcieren. “Es ist zu erwarten gewesen, dass Lukaschenka versuchen wird, unseren Nationalfeiertag zu nutzen, um zuzuschlagen”, kommentierten Informanten aus den Geheimdiensten die Situation im Gespräch mit dem Blatt. In Reaktion auf den Vorstoß habe das Verteidigungsministerium 12 Tausend Soldaten an die Grenze geschickt, der Grenzschutz 8 Tausend Beamte und die Polizei ein Tausend Mann. Weitere hunderte von Funktionären, die vor dem Nationalfeiertag in ihre Einheiten zurückgekehrt seien, würden ebenfalls mobilisiert. All das könne erst der Beginn des offenen Konflikts sein, urteilt die Zeitung.
Der einzige Ausweg sei für die Regierung nun, die Verantwortung zu teilen: mit der Opposition und mit der EU. Sonst sei eine Eskalation unausweichlich, betont in ihrer Stellungnahme die Publizistin der Rzeczpospolita Zuzanna Dąbrowska.
Plus Minus: Souveränität in der Quetschzone
Der sich in der Zwischenzeit stetig zuspitzende Konflikt zwischen Warschau und Brüssel bleibt ebenfalls ein wichtiges Thema in den Wochenzeitungen. So macht etwa das nationalkonservative Wochenblatt “Do Rzeczy” die aktuelle Ausgabe mit einem Appell auf, das Europäische Parlament abzuschaffen, da dieses, so der Tenor der Interviews und Kommentare über keine demokratische Legitimität verfüge und sich Rechte zuspreche, die ihm nicht zustehen würden.
Der harte Konflikt zwischen der EU und Polen ist auf einer gewissen Etappe der polnischen EU-Mitgliedschaft unausweichlich gewesen, schreibt in seiner Analyse zum Konflikt in der aktuellen Ausgabe des Wochenendmagazins Plus Minus der Publizist Michał Kuź. Der Streit, so der Autor, hänge mit der unterschiedlichen Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen der europäischen Gemeinschaft und dem polnischen Staatswesen auf beiden Seiten der Barrikade zusammen. Und daher könne er nur beendet werden, wenn beide Seiten ihre historischen Motivationen gut verstehen, statt sich auf kurzfristigen politischen Fluktuationen sowie Umfrage-Snapshots der politischen Realität zu stützen.
Der Kern des Problems? Die Gründernationen der EU hätten, wie der Autor beobachtet, außer Luxemburg, alle eine Geschichte von mehr oder weniger blutigen Kolonial-Eroberungen und mehr oder weniger gelungenen imperialistischen Projekten hinter sich. Für sie sei die Idee, dass die EU bestimmte nationale Ambitionen dämpfen soll, von Beginn an klar gewesen. Die Furcht vor einem vollständigen Verlust der Souveränität sei indes als wenig real wahrgenommen worden. Diese Einstellung zur europäischen Integration, so der Autor, stehe in klarem Widerspruch zu der Einstellung, mit der die Staaten Mittel- und Osteuropas und vor allem Polen der EU beigetreten seien. Sie, so Kuź, hätten den EU-Beitritt vor allem als Mittel gesehen, ihre Souveränität zu sichern, nicht zu begrenzen. Diese polnische Perspektive sei natürlich die Folge der historischen Erfahrung des Landes und der Tatsache, dass Polen die größte Bedrohung für die eigene Souveränität vor allem im Osten gesehen habe und weiterhin sehe. Der beste Weg, sich gegen diese Gefahr abzusichern sei aus polnischer Sicht der Beitritt zu westlichen Strukturen gewesen.
Diese Strategie von Bündnissen und der gleichzeitige Skeptizismus gegenüber regionalen internationalen Projekten sei gewissermaßen die Essenz von Souveränität in einer geopolitischen Region, die manche als geopolitische Quetschzone bezeichnen.
Mit den anderen EU-Staaten habe sich Polen also gewissermaßen in der Mitte getroffen. Sie seien gerade dabei gewesen,ihre alten, einst mächtigen und raubgierigen Nationlismen zu schwächen. Polen habe indes versucht, sein noch fragiles, frisch wiedergewonnenes Staatswesen zu schützen. Dann, so der Autor, seien unsere Wege jedoch unvermeidlich auseinandergedriftet. Weitere Integrationsversuche der EU seien in Warschau mit immer weniger Enthusiasmus aufgenommen worden. Gemeinsame Währung? Ja, aber nicht sofort. Europäische Streitkräfte? Vielleicht, aber Vorrang habe das NATO-Format, in dem die USA die erste Geige spielen. Gemeinsame Außenpolitik? Ist ok, aber nur mit Vetorecht. Strategische Souveränität Europas? Wir wissen nicht, was das bedeuten sollte. Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht? Veto.
Sicher, so der Autor, die Polen würden in der EU weiterhin einen Garanten für die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes und die politische Stabilität des Kontinents sehen. Nur, dass sie dabei eine größere Einheit des Westens annehmen, als die, mit der wir es tatsächlich zu tun hätten. Und einen kleineren Drang der EU zur Beschneidung der Rolle von Nationalstaaten, als den, den die EU tatsächlich vorweise. Ein Polexit sei daher nicht so unwahrscheinlich, wie die Opposition denke, die versuche, mit diesem Schreckgespenst ihre Wähler zu mobilisieren. Zumal der Brexit die EU nicht dazu überzeugt habe, erneut Kurs auf ein Europa der Nationen zu nehmen. Stattdessen wolle das Establishment die Integration beschleunigen.
Polen habe vor diesem Hintergrund drei Möglichkeiten. Erstens den Weg der teilweisen Marginalisierung. Zweitens könne die Opposition, nach einem eventuellen Sieg über die Konservativen Schutz beim deutsch-französischen Tandem suchen. Man könne jedoch auch versuchen, was bisher leider keine politische Option in Polen offen signalisiere. Und zwar, eine größere Netz-Souveränität zu bauen, die auf der Zahl und Qualität der Verbindungen mit anderen Strukturen basiere. Um sich in der EU souveräner zu fühlen, müsse Polen ein diverseres Netz von Beziehungen pflegen, als bisher. Auch oder vielleicht vor allem zu Metropolen, mit denen Polen nicht so viel verbinde, wie Paris, Madrid oder Rom. Von der EU sei indes ein besseres Verständnis notwendig, woher die polnische pro-europäische Einstellung komme und dass sie nicht ein für allemal gegeben sei, so Michał Kuź in Plus Minus.
Autor: Adam de Nisau