Ein wichtiges Thema in den Pressekommentaren ist der geplante Besuch von Bundeskanzler Scholz, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und Italiens Premierminister Mario Draghi in Kiew und die Frage, welche Botschaft sie für Präsident Selenskyj mitbringen werden.
Rzeczpospolita: Botschaft der EU an Kiew
Der Krieg in der Ukraine verschwindet langsam von den ersten Seiten der Tagesblätter und Nachrichtenportale, beobachtet in seinem Kommentar für die konservativ-liberale Rzeczpospolita der Publizist Jerzy Haszczyński. Und das schwindende Interesse am Krieg, so der Autor, werde sich früher oder später auch in den Entscheidungen der Politiker widerspiegeln. Leider wohl eher früher. Gleichzeitig hätten wir es auch mit einigen für die Ukraine ungünstigen Phänomenen zu tun. Die Ukraine würde weiterhin Teile ihres Staatsgebiets verlieren. Sie könne keine Gegenoffensive starten, da die Waffenlieferungen aus dem Westen zu gering und zu langsam seien. Und Sanktionen, die die Situation an der Front ändern könnten, seien entweder nicht eingeführt worden oder hätten noch nicht begonnen zu funktionieren. Russland würde indes mit Rohstoffexporten weiterhin Milliarden verdienen. Dreieinhalb Monate nach dem Beginn des Angriffskriegs seien die aus dem Westen stammenden Profite Russlands größer als die westliche Hilfe für die Ukraine, zählt Haszczyński auf.
Nun, so Haszczyński, sollen endlich die Anführer der drei wichtigsten EU-Staaten - Frankreich, Deutschland und Italien - nach Kiew reisen. Das positive Szenario: Präsident Macron, Kanzler Scholz und Premierminister Draghi kündigen ein großes militärisches Unterstützungsprogramm für die Ukraine an und sagen den Ukrainern, dass die EU nur darauf wartet, ihren Staat als Mitglied aufzunehmen. Und zwar wirklich und nicht nur zum Schein. Es gebe jedoch auch ein negatives Szenario. Sie können Selenskyj auch mitteilen, dass er nicht mehr über die Befreiung von Mariupol denken und sich stattdessen langsam damit abfinden sollte, dass der Frieden, auf den wir schließlich alle warten würden, einen Kompromiss verlange, dank dem Putin sein Gesicht wahren könne, so Jerzy Haszczyński in der Rzeczpospolita.
Gazeta Wyborcza: Verliert die Ukraine den Krieg?
Wird ein Sieg der Russen in Sewerodonezk bedeuten, dass die Ukraine den Krieg verliert? Nein, schreibt im Aufmacher der linksliberalen Gazeta Wyborcza der Publizist Bartosz Wieliński. In der am Fluss Doniec gelegenen Ortschaft, erinnert der Autor, werde um jeden Meter gekämpft. Derzeit würde Russland über ein Drittel der Stadt kontrollieren und systematisch ein Viertel nach dem anderen in Schutt und Asche legen. Alles deute daher darauf hin, dass die russischen Truppen früher oder später die ganze Stadt unter ihre Kontrolle bringen werden. Aus dieser Tatsache, so Wieliński, würde ein Teil der westlichen Publizisten den Schluss ziehen, dass die Ukrainer den Krieg verlieren. Dabei werde oft vergessen, dass Russland die Ukraine am 24. Februar nicht angegriffen habe, um Mariupol oder Sewerodonezk zu erobern. Stattdessen sei das Ziel der Invasion die Eroberung des ganzen Landes gewesen. Seitdem seien 111 Tage vergangen und Putin könne immer noch keine ernsthaften Erfolge vorweisen. Die Ukraine würde immer noch über Luftstreitkräfte und Luftabwehrsysteme verfügen. Ständig treffe auch neue Militärhilfe aus dem Westen ein. Und die Zeit sei ein Verbündeter der Ukraine. Um die verlorenen Fahrzeuge zu ersetzen, erinnert Wieliński, habe Russland 50-jährige T-62-Panzer an die Front geschickt. Um den Verlust von Soldaten wettzumachen, würden die Behörden der selbsternannten Volksrepubliken im Donbass Jagd auf Männer im Wehrdienstalter betreiben, die dann in die Armee eingezogen werden.
Die Ukraine appelliere nun angesichts der erbitterten Kämpfe im Donbass an den Westen um die dringende Lieferung von weiteren schweren Waffen. Auf der Liste der Administration von Präsident Selenskyj würden sich 1000 Haubitzen, 500 Panzer, 300 Raketenwerfern und zwei Tausend gepanzerte Fahrzeuge befinden. Die große Frage, die einen bedeutenden Einfluss auf den Ausgang des Krieges haben werde, sei nun, ob Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanzler Olaf Scholz und Italiens Premierminister Mario Draghi bei ihrem Besuch in Kiew die EU-Aspirationen der Ukraine unterstützen oder an Selenskyj eher um Zugeständnisse an Putin appellieren werden, schreibt Bartosz Wieliński in der Gazeta Wyborcza.
Autor: Adam de Nisau