PLUS MINUS: Berührende Worte, rücksichtslose Politik
Die Regierung in Warschau wolle einen Bericht zu den von Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg im Land angerichteten Kriegsschäden am 1. September (Donnerstag) vorstellen. Der Tag habe einen hohen Symbolwert: Am 1. September 1939 habe der deutsche Überfall auf Polen begonnen. Er sei der Beginn des Zweiten Weltkriegs mit mindestens 55 Millionen Toten – andere Schätzungen würden sogar von 80 Millionen sprechen. Allein in Polen seien nach Schätzungen bis zu 6 Millionen Menschen ums Leben gekommen.
In einem Gespräch mit der Wochenzeitschrift Plus Minus sagt der Historiker, Professor Stanisław Żerko, dass er an die deutschen Reparationszahlungen nicht glaube. Man sollte aber die deutschen Partner auf die jahrelange, rücksichtslose Politik der Bundesrepublik in Bezug auf die Kriegsentschädigungen und die mangelnde Empathie für das polnische Leid aufmerksam machen, meint der Historiker.
Żerko erinnert in dem Gespräch auch an einige Kapitel der langen und komplizierten Diskussion. Er weist unter anderen auf das Treffen von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem US-Präsidenten George Bush hin. Bei dem Gespräch soll der deutsche Politiker seinen amerikanischen Amtskollegen belogen haben, indem er behauptete, dass von den 100 Milliarden D-Mark für Kriegsentschädigungen Polen einen Großteil bekommen habe. In Wirklichkeit habe es sich um lediglich 100 Millionen Mark gehandelt, die darüber hinaus nicht dem polnischen Staate, sondern konkreten Personen – Opfern von pseudomedizinischen Experimenten – ausgezahlt wurden. Weitere 500 Millionen D-Mark hätten die Polen erst in den 90er ausgehandelt. Die Berechnungen seien sehr unpräzise, aber insgesamt hätten polnische Bürger vom deutschen Staat seit 1972 bis heute Entschädigungen in Höhe von 6 bis 11 Milliarden Zloty bekommen. Zum Vergleich stelle Polen für das Kindergeldprogramm “Familie 500+” ca. 40 Milliarden Zloty jährlich zur Verfügung.
Die deutschen Partner sprechen gerne von Versöhnung, sie würden darauf hinweisen, dass sich die Politik auf Werten stützen sollte, führt der Historiker fort. Die Deutschen hätten es gelernt, sehr berührend über die dunkelsten Seiten der eigenen Geschichte zu sprechen. Ein gutes Beispiel dafür sei die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Wieluń, wo die ersten deutschen Bomben fielen. Zuerst in Wieluń und dann auch in Warschau habe Steinmeier von der deutschen Schuld, den deutschen Verbrechen und von der deutschen Scham gesprochen. Was nütze das aber? – fragt der Historiker. Diese Einstellung stehe doch im krassen Widerspruch zu der rücksichtslosen Politik der Regierungen in Bonn und Berlin. Deutschland habe ohne Bedenken die schwache politische Lage zuerst der polnischen Volksrepublik und später des freien, demokratischen Polens ausgenutzt. Daran sollte man unsere westlichen Nachbarn erinnern, meint der Historiker, Professor Stanisław Żerko im Gespräch mit der Wochenzeitschrift Plus Minus.
DZIENNIK/GAZETA PRAWNA: Endlich gibt es Diskussionsstoff
Die Tageszeitung Dziennik/Gazeta Prawna biezieht sich in der neuen Ausgabe auf den Auftritt des deutschen Kanzlers in Tschechien. Olaf Scholz habe in Prag seine erste große Rede als Regierungschef zur Europapolitik gehalten und dabei einige Vorschläge zur Reform der Europäischen Union gemacht. Dass die EU weiter in Richtung Osten wachse, sei für alle ein Gewinn, sagte der Politiker an der Prager Karls-Universität. Er habe sich für den Beitritt der Ukraine, der Staaten des Westbalkans, Moldaus und perspektivisch auch Georgiens ausgesprochen. In diesen Tagen würde sich erneut die Frage stellen, wo künftig die Trennlinie zwischen freiem Europa und einer neoimperialen Autokratie verlaufe, sagte Scholz mit Blick auf die russische Aggression in der Ukraine.
Eine aus weiteren Beitritten resultierende EU mit 30 bis 36 Mitgliedsstaaten müsste sich nach seinen Worten auch in ihren Entscheidungsprozessen reformieren. Er habe deshalb vorgeschlagen, sich langsam vom Prinzip der Einstimmigkeit zu verabschieden und schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen. Beginnen könne man dabei etwa bei der gemeinsamen EU-Außenpolitik oder in der Steuerpolitik. Eine wachsende EU hätte laut Scholz auch zur Folge, dass Kommission und Parlament reformiert werden müssten.
In einem Gespräch mit dem Blatt nimmt der ehemalige Außenminister Polens, Witold Waszczykowski, Stellung zu den Konzeptionen des deutschen Politikers. Man habe sich lange über Olaf Scholz lustig gemacht, er wäre ein Politiker mit dem Charisma eines Buchhalters. Plötzlich habe er in Prag eine interessante Rede gehalten und eine Konzeption vorgestellt, mit der man diskutieren könne. Mit vielen Punkten sei er nicht einverstanden, aber endlich gäbe es Diskussionsstoff, sagt der polnische Politiker. Diese Rede sollte man nicht ignorieren. Denn man könne endlich konkret festlegen, worüber sich die EU-Staaten einigen könnten, und wo es gravierende Unterschiede gäbe. Waszczykowski selbst betrachte, wie gesagt, manche Thesen der Rede von Scholz sehr kritisch. Denn unter dem Vorwand des Baus eines stärkeren Europas versuche Berlin solche Vorschläge zu schmuggeln, die vor allem im Interesse der Bundesrepublik stehen würden, meint der Politiker.
Eine logische Folge der vorgestellten Konzeption wäre zum Beispiel die Marginalisierung Polens und anderer Oststaaten. Die meisten Länder müssten sich in einer von Scholz entworfenen EU den in Berlin, Paris und Brüssel ausgearbeiteten Ideen unterordnen. Eine Unterordnung Polens der Brüsseler Bürokratie könne sich der ehemalige polnische Chefdiplomat Witold Waszczykowski aber nicht vorstellen, lesen wir in der Tageszeitung Dziennik/Gazeta Prawna.
Jakub Kukla