Deutsche Redaktion

"Wer als nächstes?"

07.10.2022 12:32
Putin sei nicht mehr die höchste Autorität der russischen Massen. Dziennik/Gazeta Prawna analysiert, wer sich gegen ihn erheben könnte und welche Asse der russische Machthaber selbst noch im Ärmel habe. Außerdem geht es auch um die Frage, wie es weitergehen soll mit der Kohleversorgung der Polen.  
Ekspert: w rosyjskim sztabie generalnym narasta sprzeciw wobec Putina
Ekspert: w rosyjskim sztabie generalnym narasta sprzeciw wobec PutinaPAP/MAXIM SHIPENKOV

Rzeczpospolita: Handel mit Kohle nicht für die Gemeinden

Ein wichtiges Thema in der Presse sind die Versuche der Regierung, die Kommunen als Vermittler bei der Distribution und beim Verkauf von Kohle einzusetzen. Juristen, lesen wir im Aufmacher der konservativ-liberalen Rzeczpospolita, seien sich einig, dass ein solcher Schritt die in der Verfassung verankerten Rechte von Gemeinden und Städten verletzen könnte. “Wenn die Gemeinde eine solche Rolle auf sich nimmt, wird sie als Vermittler auftreten und Wirtschaftstätigkeit betreiben. Das kann sie jedoch nur im Bereich der kommunalen Aktivität tun, zu der die Beschaffung von Kohle eben nicht gehört”, erklärt Prof. Hubert Izdebski von der Universität SWPS. Laut Experten, so das Blatt, sollten Unternehmen und nicht die Kommunen für den Verkauf von Kohle zuständig sein. 

Mit diesem Versuch und der damit einhergehenden Kritik der Kommunen wolle die Regierung die Schuld für den drohenden Kohlemangel eben auf die Selbstverwaltungen schieben und sich dadurch der Kritik von Seiten der Gesellschaft für eventuelle Probleme bei der Kohlebeschaffung entziehen, urteilt in ihrem Kommentar zum Thema die Publizistin der Zeitung Zuzanna Dąbrowska.

Dziennik/Gazeta Prawna: Wer als nächstes?

Putin sei nicht mehr die höchste Autorität der russischen Massen. Aber das bedeute nicht, dass ihn die russische Gesellschaft stürzen werde. Davon, wer es letztendlich tue (und ob es dazu komme), hänge die Zukunft ab, schreibt in seiner Analyse für das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna der Politologe Witold Sokała. 

Der wachsende Widerstand der russischen Gesellschaft, so der Autor, sei mittlerweile mit bloßem Auge zu sehen. Zunächst habe sich der Protest auf enge Gruppen beschränkt, die schon zuvor mit der liberalen Opposition verbunden gewesen seien. Oder besser gesagt, mit deren letzten Überresten, die den über Jahre hinweg ausgebauten Putinismus überstanden hätten. Das System habe sich auf einem schweigend akzeptierten Pakt zwischen den Machthabern und der Gesellschaft gestützt. Der Kreml habe den Massen ein Gefühl des Stolzes über den Wiederaufbau der internationalen Position Russlands gegeben, was in diesem Land traditionell hoch geschätzt werde. Und so etwas, wie eine kleine Stabilisierung. Im Gegenzug habe das Volk (denn von “Bürgern” könne in diesem Fall nur schwer die Rede sein) gehorsam an dem Spektakel der Polittechnologen des Kremls teilgenommen und sich nicht in die Politik eingemischt. Zumindest nicht so, dass dies auch nur ein Runzeln der Augenbraue des Zaren hervorrufen könnte. Ein Teil des Paktes sei auch die schweigende Akzeptanz von Pathologien des Systems gewesen, allen voran der Korruption und Vetternwirtschaft. 

Ende Februar, so Sokała, habe dieses System den ersten Schlag erhalten. Die Autorität der Machthaber habe gelitten und zum ersten Mal seit Langem sei ihre Effektivität zweifelhaft geworden. Statt eines weiteren, brillanten Erfolgs, seien erste militärische Misserfolge gekommen. Als sich dieser Moment der Schwäche erst über Wochen und dann über Monate hingezogen habe, habe das Volk verstanden, dass sich die von der offiziellen Propaganda immer wieder beschworene Macht Russlands als Illusion erweisen könne. 

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe, sei schließlich die Mobilisierung und ihr chaotischer Verlauf gewesen. Putin und Co. hätten damit den ersten Punkt des Paktes nicht eingehalten. Denn statt Russland zu fürchten, würde sich die Welt gegen Moskau auflehnen und sogar über den Kreml spotten. Und auch mit der kleinen Stabilisierung sei es infolge der Sanktionen vorbei. 

Gleichzeitig müsse man auch im Hinterkopf behalten, dass die Demografie in Russland unerbittlich sei. Russland schrumpfe und werde älter. Immer mehr Familien hätten nur ein Kind. Die Menschen seien sich bewusst, dass es sein Leben verlieren könne. Dazu komme der Massenexodus ins Ausland. Dieser entlade zwar einerseits das Potential einer internen Rebellion. Gleichzeitig würden jedoch vor allem Fachleute fliehen, was sich bald schmerzhaft in wichtigen Zweigen der Wirtschaft widerspiegeln werde. Die allgemeine Not, vielleicht sogar eine Hungersnot, könnten die Grundlage für eine Rebellion bilden. 

Viel wahrscheinlicher als ein Fall des Regimes infolge von Massenprotesten, sei jedoch ein Putsch von Seiten des sogenannten “deep state”, also des “tiefen Staates”. Diesen würden in Russland informelle Beziehungen zwischen Politikern, hohen Staatsbeamten, Militärs, Geheimdienstfunktionären, des großen Business und schließlich der Propagandamaschine bilden. Putin habe seine Karriere als Stabilisator dieses Systems begonnen. Inzwischen würden immer mehr russische Influencer im Ausland ihre Narration langsam verändern und von Lobeshymnen für den Zaren auf Botschaften umschalten, laut denen Russland gut und nur Putin zu weit gegangen sei. Aktuell seien es zwar noch Putin und seine Leute, die immer neue Sündenböcke finden und sie vom Schlitten werfen. Doch wenn eine kritische Masse erreicht werde, die Opfer des Zorns des Zaren einen gemeinsamen Nenner finden und sich mit den Oligarchen absprechen, deren Vermögen derzeit systematisch schrumpfe, könne sich die Situation rasch umdrehen. 

Auch im Falle eines gelungenen Putsches, lesen wir weiter, bleibe allerdings natürlich die Frage offen, wer und mit welchen Zielen Putin ersetzen könnte. Ein oberflächlicher Personalwechsel und die Rückkehr zu “Business as usual” mit dem Westen werde mit jedem Kriegstag immer unwahrscheinlicher. Eine reale Änderung der Beziehungen mit dem Westen sei insofern schwer vorstellbar, als dass eine tatsächliche Abkehr vom Imperialismus und ein eventueller vollständiger Rückzug aus der Ukraine immer noch zu wenige Befürworter zu haben scheinen. Es gebe schließlich auch eine dritte Variante, in der Putin leider durch jemanden mit den gleichen Zielen ersetzt werden würde, der diese nur effektiver umsetzen könnte.

Aktuell bleibe Putin jedoch immer noch im Spiel und versuche seinen Wettlauf gegen die Zeit zu gewinnen. Dabei zähle er vor allem auf seine Kontrolle über die Propagandamaschine und auf eine wachsende Ermüdung auf Seiten der Ukraine und ihrer Verbündeten, vor allem in den Wintermonaten. Zudem würden die westlichen Politiker, die die Ukraine unterstützen, ihrerseits auch Fehler begehen, für die sie mit Popularitätsverlusten in ihren Ländern zahlen. So könnte Putin in einem für sich günstigen Szenario etwa auf einen Machtwechsel in den USA und einen eventuellen neuen Deal mit seinem Freund Trump und den Isolationisten und Pseudorealisten in dessen Lager zählen.  

Auf dem Schnittpunkt all dieser Fragen würde sich die Perspektive einer Anwendung von Atomwaffen durch den Kreml platzieren. Auch auf dieses Risiko, betont der Autor, müssten wir strategisch, taktisch und mental vorbereitet sein. 

Derweil bleibe uns, die Daumen zu drücken, dass Putin seinen Wettlauf gegen die Uhr doch noch verliere. Derselben Meinung scheinen, am Rande gesagt, auch immer mehr Russen zu sein - darunter auch so einflussreiche, wie Jewgienij Prigozhin, der Ko-Schöpfer der berüchtigten Wagnergruppe, der zuletzt immer offener Personen aus dem Umfeld Putins öffentlich kritisiert habe. Bis dato würden vor allem Personen aus Prigozhins´ direktem Umfeld in dessen Fußstapfen treten. Die Frage ist, wer ihnen nun als nächstes folgen könnte, so Witold Sokała in seiner Analyse für Dziennik/Gazeta Prawna.


Autor: Adam de Nisau