Deutsche Redaktion

Gastbeitrag von Regierungschef Morawiecki im "Spiegel": "Deutschland muss die Verantwortung für die Zerstörung Polens übernehmen"

12.01.2023 13:35
Fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fordert die polnische Regierung Entschädigungen in Billionenhöhe. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erklärt im "Spiegel", warum Deutschland die Verantwortung für seine Handlungen aus der Vergangenheit übernehmen müsse. Außerdem geht es auch um die Frage, inwiefern der Krieg in der Ukraine die europäische Identität stärken kann und um die Skepsis der Polen gegenüber dem Euro.
Mateusz Morawiecki
Mateusz MorawieckiTwitter/@PremierRP

Der Spiegel: "Deutschland muss die Verantwortung für die Zerstörung Polens übernehmen"

Eine ganze Generation von polnischen Künstlern, Schriftstellern und Kulturschaffenden sei der totalitären Kriegsmaschinerie zum Opfer gefallen, schreibt der polnische Premierminister in einem Artikel, der am Mittwoch in dem Wochenblatt erschienen ist. Polens immenses kulturelles Erbe sei unwiederbringlich verloren. Die Kultur, das intellektuelle und künstlerische Schaffen, das eine jede Nation ausmache, sei genau das Ziel des totalen Krieges der Nazis gewesen: Polen sollte vom Angesicht der Erde getilgt, aus dem Gedächtnis gelöscht werden, so Morawiecki. Das Ziel sei die totale Zerstörung gewesen. Von Beginn der Besatzung an hätten die Deutschen polnische Kunstwerke in öffentlichen und privaten Sammlungen geplündert, lesen wir. Und zwar nicht nur die deutschen Besatzungsbehörden. Auch einzelne Wehrmachtssoldaten hätten beispielsweise Schmuck oder Gemälde aus polnischen Privathäusern gestohlen.

Die Besatzer hätten Hunderttausende von Künstlern, Wissenschaftlern, Lehrern und Schriftstellern verfolgt und ermordet, fährt Polens Regierungschef fort. Sie hätten Städte und Dörfer sowie die historische Architektur des Landes zerstört. Von allen Städten in Europa sei Warschau während des Zweiten Weltkriegs am stärksten zerstört worden. Polen schätze seine Verluste auf rund 1,3 Billionen Euro.

Die deutsche Besatzung, lesen wir weiter, sei eine der grausamsten in der europäischen Geschichte gewesen. Geht es nach Morawiecki, habe sie mindestens einer ganzen Generation die Chance auf eine Zukunft geraubt. Millionen von polnischen Bürgern seien nie für die unvorstellbaren menschlichen und materiellen Verluste entschädigt worden.

Morawiecki wisse, wie schwierig es sei, die Welt von heute mit dieser Wahrheit zu erreichen. Sowohl in den Beziehungen zwischen Menschen, als auch denen zwischen Staaten sollten Wahrheit und Gerechtigkeit aber trotzdem die höchsten Werte sein. In diesem Sinne fordere er im Namen Polens die deutschen Partner auf, endlich die politische, historische, rechtliche und finanzielle Verantwortung für alle Folgen des Einmarsches in Polen zu übernehmen, so Mateusz Morawiecki im "Spiegel".

Dziennik/Gazeta Prawna: Legt der Krieg einen Grundstein für europäische Identität?

Der Krieg im Osten sei zweifellos das wichtigste politische und strategische Ereignis des Jahres 2022 gewesen, schreibt indes der Wirtschafts-Journalist Rafał Woś im Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna. Die weitreichenden Folgen des Krieges, so der Autor, würden uns noch bevorstehen. Einige von ihnen könne man aber schon heute sehen. So sei die Hälfte der Daten zu einer europaweiten Untersuchung zu Haltungen und Meinungen junger Menschen vor Kriegsausbruch und die andere danach gesammelt worden. Den Forschern sei es damit gelungen, ein echtes - wenn auch völlig ungeplantes - natürliches Experiment durchzuführen. Die Ergebnisse würden die allgemeine These eines deutlichen Anstiegs von pro-europäischen Stimmungen unter den Jugendlichen infolge des Krieges bestätigen. Nach dem russischen Einmarsch auf der Krim 2014 hätten sich solche Tendenzen nur unter jungen Menschen in den baltischen Staaten abgezeichnet, also dort, wo man den russischen Revanchismus und Drang, die sowjetische Einflusssphäre wiederherzustellen, am stärksten befürchtet habe. Heute indes sei ein Anstieg der Sympathie für die europäische Idee europaweit zu beobachten. Dies würde in Übereinstimmung mit der aus der Politikwissenschaft stammenden These übereinstimmen, laut der die Loyalität der Bürger gegenüber der Regierung in Gefahrensituationen steigt. Übertrage man dies auf die gegenwärtigen Verhältnisse, so zeige sich, dass sich infolge des Kriegs vielleicht auch hier der Keim einer gesamteuropäischen Identität entstehen könnte, so Rafał Woś in Dziennik/Gazeta Prawna.

Gazeta Polska Codziennie: Euro-skeptische Euro-Enthusiasten

Die Fachwelt sei gerade von einer Umfrage erschüttert worden, der zufolge 64 Prozent der Polen gegen die Einführung des Euro seien, schreibt die regierungsnahe Tageszeitung Gazeta Polska Codziennie. Nur jeder Vierte würde demnach einen Umstieg Polens auf die Gemeinschaftswährung befürworten. Selbst unter den Wählern der Opposition, so die Zeitung, gebe es praktisch ebeonso viele Gegner wie Befürworter des Euro - ungefähr 45 Prozent. Geht es nach der Zeitung, habe sich damit seit Jahren fast nichts geändert. Die allgemeine Begeisterung der Polen für die europäische Gemeinschaft würde nicht mit der Unterstützung für die gemeinsame Währung einhergehen, heißt es.

Im vergangenen Jahr seien insgesamt 65 Prozent der Polen gegen den Euro gewesen. Ein Jahr zuvor seien es noch 53 Prozent gewesen. Der Euro würde also Anhänger verlieren. Nur die Oppositionspolitiker würden ihn auf die Fahnen malen und auch als Wundermittel gegen die Inflation darstellen. Sollten sie beschließen, dies auch zum Wahlkampfthema zu machen, wäre das eine gute Nachricht für die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). In dieser Frage würde sie der Intuition und den Bedenken der Mehrheit der Polen entgegenkommen, so Gazeta Polska Codziennie. 

 Autor: Piotr Siemiński