Deutsche Redaktion

"Hat Russland je einen nuklearen Test durchgeführt?"

24.02.2023 13:16
Putin droht dem Westen immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen? Doch er habe mit der nuklearen Komponente der Streitkräfte der Sowjetunion zu tun gehabt und hält ein solches Szenario für unrealistisch, sagt der emeritierte ukrainische Oberst Serhij Hrabski. Außerdem: Der bisherige Kriegsverlauf hat sowohl Russland, als auch die USA überrascht und wird künftig immer weniger von Washington und Moskau abhängen, urteilt in seiner Analyse zum ersten Jahrestag des Kriegsausbruchs der Publizist der Rzeczpospolita Jędrzej Bielecki. Und: Auch die Verschleppung von ukrainischen Kindern kann als Genozid eingestuft werden, sagt Dr. Tomasz Lachowski. Die Stimmen nach einem Jahr Krieg in der Presseschau.
Rocznica rosyjskiej inwazji. Rada Północnoatlantycka: będziemy zwiększać wsparcie dla Ukrainy
Rocznica rosyjskiej inwazji. Rada Północnoatlantycka: będziemy zwiększać wsparcie dla UkrainyPAP/EPA/TOMS KALNINS

Dziennik/Gazeta Prawna: Hat Russland je einen nuklearen Test durchgeführt?

Als er nach Beginn der Invasion, auf Befehl der Führung der Streitkräfte hin, in Lviv eingetroffen sei, habe er die Frage gestellt, wie viele Raketen- und Luftangriffe es geben habe, erinnert sich im Gespräch mit dem Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna der emeritierte Oberst der ukrainischen Streitkräfte Serhij Hrabski. Die Antwort habe 186 gelautet. Auf die Frage, ob das ein Witz sei, habe er keine Antwort mehr erhalten, so Hrabski, denn seine Untergebenen hätten nicht verstanden, wie die Attacke am 24. Februar mit der Theorie von Offensiv-Operationen zusammenhänge. Für ein Territorium, wie das der Ukraine, fährt der Militär fort, sollten es laut dieser Theorie in einem kurzen Zeitraum mindestens 400-600 Luftschläge sein. Und hier seien es landesweit eben gerade einmal 186 gewesen. Das Befehlssystem der ukrainischen Armee sei nicht zerstört worden, ebenso wenig wie Flughäfen und Orte, an denen Truppen versammelt gewesen seien. Die Russen hätten Schläge durchgeführt - und? Sie hätten die Menschen damit nur in Rage gebracht. Außerdem, so Hrabski, gebe es objektive Indikatoren zur Zahl von Soldaten, die für die Durchführung einer offensiven Operation notwendig seien. Eine solche Armee sollte zwei- bis dreimal größer sein, als die Truppen der Verteidiger. Russland hätte also 600-700 Tausend Soldaten bereitstellen müssen. Stattdessen seien 200 Tausend in den Kampf geschickt worden, so Hrabski. 

Auf die Frage, wie wir die Situation in einem Jahr zusammenfassen werden, prognostiziert der Militär, dass sich die Situation insgesamt verbessern wird. Letztendlich werde jedoch nicht der militärische, sondern der ökonomische Faktor entscheidend sein. Schon in den NATO-Hochschulen habe er gelernt, dass die es die Wirtschaft sei, die Kriege gewinne. Während des ersten Weltkriegs, so Hrabski, habe die deutsche Armee nicht auf eigenem Staatsgebiet gekämpft und trotzdem, als beste Armee der Welt, verloren. Die Ukraine werde von der zivilisierten Welt unterstützt. Es werde Verluste geben, die Truppen würden sich zurückziehen müssen. Aber die Armee erfülle die gestellten Aufgaben. Das Ziel einer Manöververteidigung, lesen wir weiter, sei es, dem Gegner maximale Verluste zuzufügen, sogar dann, wenn eine Gegenoffensive nicht möglich sei. Und Russland habe sich nicht auf einen solchen Krieg vorbereitet, seine Möglichkeiten würden systematisch schrumpfen. Trotzdem, so Hrabski, habe er keine Zweifel, dass es noch sehr schwierige Momente geben wird. Die Verluste seien fürchterlich. Er habe Angst, nach Lviv zu fahren und den dortigen Friedhof zu besuchen. Dennoch: Finnland habe während des Winterkriegs auch enorme Verluste erlitten und dennoch standgehalten. Polen habe 1920 die russische Armee zerschlagen, ihr aber keinen tödlichen Schlag versetzen können. Und 19 Jahre später hätten die Russen Polen eine schreckliche Tragödie zugefügt. Deswegen würden die Polen und Balten die Ukrainer jetzt so gut verstehen. Und alles geben, was sie können. Es gebe keine andere Wahl. 

Ob Russland in die Ecke gedrängt zu Atomwaffen greifen könnte? Er, so Hrabski, habe zu Beginn seiner Karriere etwas mit der nuklearen Komponente der Streitkräfte der Sowjetunion zu tun gehabt. Daher sei er kategorisch davon überzeugt, dass Russland dies nicht tun könne. Glücklicherweise habe die Weltgemeinschaft ein universales Kontrollsystem für diese Waffen geschaffen, das ihre ungestrafte Nutzung ausschließe. Und dann sei da auch die Kondition des nuklearen Arsenals der Russischen Föderation. Habe Russland jemals eine nuklearen Test durchgeführt, fragt der Offizier? Nein. Habe die Russische Föderation einen Ort, an dem sie einen solchen Test durchführen könnte? Nein. Die UDSSR habe solche Tests in Semipalatinsk und in den 60. Jahren auf der Nowaja Semlja durchgeführt. Er habe jedoch große Zweifel, ob Russland dieses Übungsgelände wieder nutzbar machen könne. Das besetzte Atomkraftwerk in Saporischschja werde von der Internationalen Atomenergie-Agentur kontrolliert. Schließlich würden auch alle wissen, wo taktische Atomsprengköpfe gelagert werden. Alle Magazine würden unter Beobachtung stehen. Sollte jemand nur eine Anomalie entdecken, wenn eines morgens zum Beispiel statt drei Personen, vier eintreffen, werde sofort eine Kettenreaktion ausgelöst und dieses Wissen werde an die politische Führung übermittelt. Die Reaktion werde prompt folgen, nach dem Motto: “Hej Jungs, was geht da vor sich?”, so Serhij Hrabski im Gespräch mit Dziennik/Gazeta Prawna. 

Rzeczpospolita: Die Ukraine hat die Welt geteilt

Wladimir Putin habe auf die Eroberung Kiews in ein paar Tagen gezählt, US-Präsident Biden wollte die russische Wirtschaft indes in ein paar Monaten in die Knie zwingen. Die Wirklichkeit habe beide Annahmen radikal revidiert, schreibt in seiner Analyse zum ersten Jahrestag des Kriegsausbruchs der Publizist der konservativ-liberalen Rzeczpospolita, Jędrzej Bielecki. Politiker, so der Autor, würden seit jeher denselben Fehler begehen: sie würden daran glauben, dass sie den Verlauf der Konflikte, die sie auslösen, kontrollieren können. Wie etwa die Anführer von Österreich-Ungarn und Deutschland, die überzeugt gewesen seien, dass eine schnelle Kampagne als Vergeltung für die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand durch den serbischen Nationalisten Gavril Princip Serbien vernichten werde. Nach vier Jahren mörderischer Kämpfe, die mindestens neun Millionen Soldaten das Leben gekostet hätten, sei die Habsburgermonarchie zerfallen und Deutschland habe die Bedingungen des Versailler Vertrags annehmen müssen. Auch der Krieg in der Ukraine, so Bielecki weiter, verlaufe, trotz viel raffinierterer Methoden der Informationssammlung als vor 100 Jahren, ganz anders - nicht nur, als man in Moskau, aber auch als man in Washington gedacht habe. Die USA hätten die Invasion vorhergesehen und Selenskyj mindestens seit November 2021 vor ihr gewarnt. Aber sie hätten die Determination des ukrainischen Präsidenten und der ukrainischen Armee völlig falsch bewertet und das Potential der russischen Armee überschätzt. Die auch davon diktierte, nur langsame Aufstockung der Militärhilfen habe Putin Zeit gegeben, sich nach der Katastrophe der ersten Monate wieder aufzuraffen. Auch heute würden die USA mit der Lieferung von Kampfjets und Langstreckenraketen zögern, wodurch Putin immer einen sicheren Ort habe, von dem aus er angreifen könne und der Krieg noch Jahre dauern könne. 

Die Antwort auf die Frage, für wen nun die Zeit spiele, so der Publizist, sei nicht klar. So habe das erste Jahr der westlichen Sanktionen gegen Russland die russische Wirtschaft nicht in die Knie gezwungen, wie es sich Brüssel und Washington erhofft hätten. Das russische Bruttoinlandsprodukt sei im vergangenen Jahr um nur 2,1 Prozent geschrumpft und der Rubel habe sich in Bezug zum Dollar sogar um 7 Prozent gestärkt. Denn Putin habe im globalen Süden  - von Indien bis Brasilien, von China bis zur Türkei - einen neuen strategischen Handelspartner gefunden. Zwei Drittel der Menschheit würden in Staaten leben, die gegenüber Moskau eine freundliche oder wenigstens neutrale Politik führen. Dank solchen Staaten, wie die Vereinigten Arabischen Emirate, hat der Kreml auch keine Probleme, finanzielle Transaktionen mit dem Rest der Welt abzuwickeln. Die Schäden für die Oligarchen, eine der Säulen des russischen Regimes, würden sich ebenfalls in Grenzen halten. Nur ein Teil ihres Vermögens sei von westlichen Sanktionen betroffen. Und auch er sei nur eingefroren, nicht konfisziert. 

Über den weiteren Verlauf des Konflikts, so der Autor, würden nun zunehmend nicht Russland und Amerika, sondern andere Akteure entscheiden. Vor allem China, das im Gegenzug für die Unterwerfung des russischen Vasallen Waffenlieferungen an Moskau anstoßen könnte. Aber auch Indien oder Brasilien, die zu immer wichtigeren Partnern Moskaus werden. 

In seinem Auftritt in München 2007 habe Putin angekündigt, dass er eine multipolare Welt auf dem Schutt des auf der Großmacht der USA beruhenden aktuellen Systems schaffen will. Und aus diesem Krieg könnte tatsächlich ein solches System entstehen. Allerdings eines, in dem das von Peking abhängige Moskau eine weitaus weniger bedeutende Rolle einnehmen wird, als es der russische Anführer wollte, so Jędrzej Bielecki in der Rzeczpospolita. 

Gazeta Polska Codziennie: Russifizierung ukrainischer Kinder

Die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie macht in der heutigen Ausgabe auf die systematische Verschleppung und Russifizierung von ukrainischen Kindern aufmerksam. Viele ukrainische Kinder, so das Blatt, seien an russische Familien zur Adoption weitergegeben worden, andere seien in spezielle Zentren in Russland und auf der Krim verschleppt worden. “Diese Aktivitäten sind vom Kreml geplant worden, um einen Teil des ukrainischen Volkes auszulöschen und können als Genozid eingestuft werden”, sagt im Gespräch mit der Zeitung der Jurist Dr Tomasz Lachowski von der Universität Łódź. Russland, so der Experte, versuche die ukrainischen Kinder ihrer Identität zu berauben und sie im Geiste des russischen Imperialismus zu erziehen. Wie die Stiftung Save Ukraine informiert, die sich für die Rückkehr der Jüngsten aus Russland einsetzt, betreffe das Prozedere vor allem Kinder aus dem Osten des Landes, darunter Waisenkinder aus Ersatzfamilien. Die Kinder würden unter dem Vorwand der “Rehabilitation” und “Betreuung” nach Russland versetzt. Nach solchen sogenannten “Erholungsaufenthalten”, zum Beispiel auf der Krim, würden die Russen die Rückgabe der Kinder verweigern. Die genaue Zahl der betroffenen Kinder sei nicht bekannt, es gehe aber um Tausende von Minderjährigen. Wie Lachowski erklärt, können solche Deportationen gleich unter drei Kategorien von Verbrechen fallen: Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Die Praxis von internationalen Gerichtshöfen lasse vermuten, dass sich die Staatsanwälte des Gerichtshofs in Den Haag etwa in erster Linie auf dem Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit konzentrieren werden. Die vorsätzliche Vernichtung eines Volkes, also ein Genozid, sei am schwierigsten zu belegen und dies könne für die Entscheidungen der Ermittler eine Rolle spielen, die das Risiko einer Niederlage werden minimieren wollen. Man könne jedoch Hinweise auf die Intention eines Genozids in den aggressiven Reden der russischen Führung und Propaganda finden. Russland wolle die entführten ukrainischen Kinder auch dazu missbrauchen, die eigenen demografischen Probleme zu mindern, so Dr Tomasz Lachowski in der Gazeta Polska Codziennie. 

Autor: Adam de Nisau