Deutsche Redaktion

"Lügen haben kurze Beine"

06.03.2023 13:24
Versucht die Bundesregierung bewusst, die eigene Unterstützung für die Ukraine hervorzuheben und die Rolle Polens kleinzureden? Setzt Bundeskanzler Olaf Scholz insgeheim immer noch auf eine Einfrierung des Krieges? Und: Sollte der Westen russischen Oligarchen einen Notausgang anbieten? Die Einzelheiten in der Presseschau.
Olaf Scholz - stuck between Russia and his electorate?
Olaf Scholz - stuck between Russia and his electorate?PAP/EPA/CLEMENS BILAN

Dziennik/Gazeta Prawna: Lügen haben kurze Beine

Deutschland versucht in letzter Zeit systematisch, die eigene Unterstützung für Kiew zu unterstreichen und dabei gleichzeitig die Hilfe aus Polen kleinzureden, schreibt in seinem Kommentar für das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna der Publizist Michał Potocki. Anlass für die Stellungnahme ist ein neuerlicher Artikel in der “New York Times”, in dem zu lesen war, dass “manche europäische Beamte der Ansicht sind, dass Warschau mehr Leopard-Panzer anbieten sollte und gewisse Politiker in dieser Woche Treffen mit polnischen Beamten planen, um die Situation besser zu verstehen”. 

Wir, so Potocki, wissen nicht mit absoluter Sicherheit, woher diese “europäischen Beamten” stammen. Doch wenn man in Betracht ziehe, dass es sich bei den Autoren des Artikels um Korrespondenten aus Berlin und Brüssel handelt, liege der Schluss nahe, dass es um Beamte aus Deutschland geht. Besonders, da die Hervorhebung der entscheidenden Rolle deutscher Lieferungen für die Ukraine bei einer gleichzeitigen Relativierung der polnischen Hilfen das neue Narrativ der Bundesregierung zu sein scheine. Dabei, so der Autor, gebe es doch auch in Deutschland die Formulierung “Lügen haben kurze Beine”. Und so schreibe die “NYT” etwa, dass Polen von den 200 polnischen Leopard-Panzern “nur 14” liefern werde. Die Autoren würden zwar erwähnen, dass Warschau “viele modernisierte Sowjet-Panzer des Typs T-72 geschickt” habe. Aber der Leser erfahre nicht, dass “viele” in diesem Fall 260 bedeute, während Deutschland seinerseits noch keinen einzigen Panzer geschickt habe. Berlin plane zwar die Entsendung von 18 Panzern, aber auch diese Zahl sei etwas geringer als 260. Der Leser erfahre auch nicht, dass es Warschau gewesen sei, das als erstes die Leopard-Frage öffentlich thematisiert und damit geholfen habe, den Widerstand der Regierung Scholz zu überwinden. Nun, so Potocki, würde Berlin sich offenbar rächen und unterstreichen, dass Polen sich mit der Lieferung von Kampfpanzern nicht beeile oder dass diese in schlechtem technischen Zustand sind und daher erst auf Trab gebracht werden müssen. Berlin, lesen wir weiter, wäre besser beraten, zuerst die eigenen Leoparden in die Ukraine zu schicken. Oder wenigstens Marder. Der Sprecher von Scholz habe schließlich noch im April 2022 angekündigt, dass die Entscheidung über die Lieferung der Transporter “unverzüglich” fallen werde. Im Dezember sei die Zustimmung für die Marder-Schützenpanzer der Öffentlichkeit erneut als Erfolg und Durchbruch verkauft worden. Nur  sei noch keiner dieser Panzer in der Ukraine angekommen. 

Schwere Geschütze, fährt der Autor fort, habe auch der deutsche Botschafter in Polen, Thomas Bagger auf Twitter ausgefahren. “Wissen Sie Herr Minister, wie viele Milliarden Złoty Polen jedes Jahr nach Moskau im Gegenzug für russische Energie überweist”, so habe Bagger auf die Worte von Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak reagiert, der Berlin für das Energiebündnis mit dem Kreml kritisiert habe. Es sei wirklich schwer, so Potocki, einen anderen Staat als Deutschland zu finden, der ein geringeres moralisches Recht darauf habe, anderen die Zusammenarbeit mit Moskau im Energiebereich vorzuwerfen. Deutschland würde sich damit brüsten, nach dem 24. Februar auf Lieferungen aus Russland weitgehend verzichtet zu haben. Nur habe Berlin damit auf heldenhafte Weise ein Problem gelöst, dass es selbst geschaffen und mit dem es dem Kreml geholfen habe, eine Schlinge um den Hals der Ukraine (und Polens) zu werfen. Als Warschau, nicht ohne Probleme, um eine Diversifizierung der Lieferungen gekämpft habe, habe sich der Kreml mit Hilfe lukrativer Posten Gerhard Schröder gekauft, was - wie das Parteigericht der SPD gerade entschieden habe - dazu noch völlig konform mit den Parteiregeln gewesen sei. 

Lehrreich sei auch die Lektüre der Liste der an Kiew geleisteten deutschen Unterstützung. Diese soll offiziellen Angaben zufolge 12,5 Milliarden Euro wert sein, was Olaf Scholz unter anderem im Gespräch mit Selenskyj unterstrichen habe. Bei näherem Hinsehen würde diese Summe jedoch, wie sich herausstelle, auch Unterstützung für andere Staaten umfassen, die - wie das Zentrum für Oststudien berichte - unter anderem für die Kontrolle von rumänischen Medien oder Hilfe für russische NGO´s und deutsche Organisationen, wie etwa das Goethe Institut ausgegeben werde. Andere häufig präsentierte Statistiken des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel würden die geleistete Hilfe mit der deklarierten Unterstützung in einen Topf werfen, für die mit Deutschland verglichenen Staaten die deklarierten Hilfen jedoch auslassen. Dazu könne man noch die Exportdaten hinzufügen. Polen habe den Ukrainern Waffen und Munition im Wert von 831 Millionen Euro verkauft. Der Wert der deutschen Exporte belaufe sich indes auf 2,1 Millionen Euro und sei damit um das 13-fache geringer als der Wert der Exporte Estlands, dessen BIP 100 Mal kleiner ist als das deutsche. 

Am 24. Februar, erinnert Potocki, habe Deutschland der Ukraine einige Stunden gegeben. Hätte Berlin recht gehabt, hätte der durch die Invasion überraschte und von den Polen evakuierte BND-Chef es vielleicht nicht zur Grenze geschafft. Der wiedergewonnene Glaube an die Ukraine in Berlin freue. Ein großer Grund zur Sorge sei jedoch die Tatsache, dass das ausgezeichnete Wohlbefinden des Bundeskanzlers leider so viel mit der Realität zu tun habe, wie die Statistiken des IfW, so Michał Potocki in Dziennik/Gazeta Prawna. 

Dziennik/Gazeta Prawna: Scholz setzt weiterhin auf eine Einfrierung des Konflikts

Den Artikel von Potocki ergänzt das Blatt mit einem Interview mit der Vize-Chefin des Zentrums für Oststudien, Justyna Gotkowska. Wie die Expertin in dem Gespräch zugibt, sei Deutschland vor allem im Energiebereich, dank dem Einsatz von Energieminister Robert Habeck, viel gelungen. Auch würde Berlin die Sanktionen gegen Russland mittragen und das Konzept von Deutschland als einem neutralen Vermittler zwischen Russland und der Ukraine sei aufgegeben worden. Berlin liefere Waffen an Kiew, auch wenn von den offensiven Waffen noch relativ wenige tatsächlich in der Ukraine eingetroffen seien. Dennoch, so Gotkowski, würde Deutschland weiterhin keine totale Niederlage Russlands in diesem Krieg wollen. Der Bundeskanzler würde immerzu wiederholen, dass “Russland diesen Krieg nicht gewinnen und die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren darf”, statt zu sagen “Russland muss verlieren und die Ukraine muss gewinnen”. Deutschland, so Gotkowska, würde befürchten, dass der Krieg eskaliert oder sich noch über Jahre hinziehen wird. Und dass Russland zerfallen könnte. Daher würde der Kanzler, auch wenn er dies nicht öffentlich zugebe, immer noch eher auf eine Einfrierung des Konflikts und auf Friedensverhandlungen setzen. Sie, so Gotkowska, glaube zwar nicht, dass Deutschland an eine Rückkehr zu Business as usual glaubt. Ein Teil der Politiker mache sich jedoch weiterhin Illusionen, dass ein Frieden und eine Normalisierung der Beziehungen mit Russland durch Friedensverhandlungen möglich ist, die der Ukraine Sicherheit garantieren würden. Aber Berlin könne keine reellen Garantien anbieten. Und der Illusion zu verfallen, dass die Ukraine einen Teil ihres Territoriums abgibt, Russland sich damit abfindet und der Konflikt damit endet, sei naiv. Besonders aus polnischer Perspektive sei deutlich zu sehen, dass Putin und Russland eine absolute Unterordnung der Ukraine wollen. Es sei klar, dass Frieden zu diesen Bedingungen nur eine Pause in diesem Krieg darstellen würde, auf die in einigen Jahren eine weitere Phase folgen würde. Man könne diesen Krieg nicht ohne eine Niederlage und einen Fall Russlands beenden und Deutschland wolle das nicht akzeptieren.

Auch in Bezug auf die Ukraine, so die Expertin weiter, würde Berlin erneut, wie zuvor schon im Falle Russland, auf der Grundlage von falschen Annahmen agieren. Die Bundesregierung würde die Ukraine weiterhin nicht als Teil des Westens anerkennen, sondern irgendwo zwischen Russland und dem Westen verorten. Kiew versuche, sich aus dieser Position verzweifelt herauszureißen, unter anderem mit den Anträgen zu einem EU- und NATO-Beitritt. Und obwohl Deutschland dem EU-Kandidatenstatus der Ukraine formell zugestimmt habe, bleibe Berlin skeptisch. Ein NATO-Beitritt sei weiterhin ein absolutes Tabuthema. Dies und das fehlende Bewusstsein, dass Russland verlieren muss, seien derzeit die größten Probleme im deutschen Denken über Osteuropa. Westlich der Oder gebe es die Bereitschaft zu Änderungen. Aber im Gegensatz zu Polen, gebe es nicht die Überzeugung, dass diese Änderungen schnell stattfinden müssen. Denn Deutschland sei nicht der Ansicht, dass Russland bereit ist, die NATO in den kommenden paar Jahren anzugreifen, so Justyna Gotkowska in Dziennik/Gazeta Prawna. 

Rzeczpospolita: Oligarchen suchen Notausgang

Nach einem Jahr Krieg haben sich viele Oligarchen in Russland vom Kreml distanziert, schreibt in seinem Kommentar für die konservativ-liberale Rzeczpospolita der Publizist Rusłan Szoszyn. Die einen, so der Autor, würden den Staat kritisieren, die anderen würden versuchen, mit dem Westen ins Gespräch zu kommen. So habe, wie Szoszyn erinnert, zuletzt der bekannte Milliardär Oleg Deripaska, auch als “Aluminium-König” bekannt, zuletzt gewarnt, dass Russland schon im kommenden Jahr das Geld ausgehen könnte. Während des ökonomischen Forums in Krasnojarsk habe er um die Verlegung der Hauptstadt in den Fernen Osten und eine engere Zusammenarbeit mit asiatischen Staaten appelliert. 

In London habe wiederum der russische Bankier Oleg Tińkow die britischen Behörden gebeten, ihn von der Sanktionsliste zu streichen. Zuvor habe er auf die russische Staatsbürgerschaft verzichtet und Putins Russland als einen “faschistischen Staat” bezeichnet. Einige der in Europa lebenden russischen Oppositionellen seien der Meinung, dass ein Verzicht auf Sanktionen in Bezug auf individuelle Personen ein Signal für andere Oligarchen sein könnte. Die Stiftung des in Haft sitzenden Aleksiej Nawalny schlage vor, dass der Westen einen Mechanismus für die Aufhebung von Sanktionen für russische Oligarchen ausarbeitet. Die Bedingung dafür könnte etwa eine Distanzierung gegenüber dem Putin-Regime und eine Mitfinanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine sein, so Rusłan Szoszyn in der Rzeczpospolita. 

Autor: Adam de Nisau