Deutsche Redaktion

"Der, dessen Namen Putin nicht aussprechen wollte"

19.02.2024 13:15
Der Tod von Kreml-Kritiker Nawalny ist das führende Thema der heutigen Pressekommentare. Wie ist es dazu gekommen, dass Nawalny für Putin zu einem Angstgegner geworden ist, dessen Nachnamen er nicht in den Mund nahm? Wieso hat sich Putin gerade jetzt für die, wie viele vermuten, Ermordung von Nawalny entschieden? Und: Hat der Westen überhaupt noch Instrumente, um auf den Tod von Nawalny zu reagieren? Die Enzelheiten in der Presseschau.
Алексей Навальный Фото: shutterstock.com/Jonas Petrovas

Gazeta Wyborcza: Der, dessen Namen Putin nicht aussprechen wollte

Nawalny sei kreativ und mutig gewesen. So habe er ihn vor langer Zeit kennengelernt, schreibt zum Tod des Oppositionellen der Publizist der linksliberalen Gazeta Wyborcza, Wacław Radziwinowicz. In einem Moskauer Büro der demokratischen Partei Jabloko, erinnert sich der Publizist, habe Nawalny mit dem Rücken zu Kollegen und Chefs an seinem Schreibtisch gesessen. Damit habe er gezeigt, dass er genug von der russischen Oppositionspolitik habe, die weder kalt noch heiß gewesen sei und die hilflos auf ein Wunder gewartet habe, einen Kompromiss mit einer Macht, die gar nicht an Kompromissen interessiert gewesen sei, sondern nur an der totalen Vernichtung ihrer Gegner.

Nawalny, so Radzinowicz weiter, habe Klasse gezeigt, als er angefangen habe, eigenständig zu handeln. Er habe erfolgreich Putins Kumpane und Mitarbeiter verfolgt, die in Korruption verwickelt gewesen seien und öffentliche Gelder veruntreut hätten. Er habe sich Zugang zu versteckten Informationen verschafft. Er sei auf die geniale und gleichzeitig simple Idee gekommen, Aktien von großen staatlich-privaten Unternehmen wie Aeroflot zu kaufen und damit als Minderheitsaktionär Zugang zu ihrer Buchhaltung zu erhalten. Er habe dem Kreml  viel Schaden angerichtet, indem er aufgezeigt habe, was sogenannte „patriotische“ Prominente Putins sich im sogenannten „feindlichen Ausland“ mit in der Heimat gestohlenem Geld geleistet hätten.

Es seien laute Skandale entstanden. Ein unabhängiger Politiker, der nie ein Amt innegehabt habe und von den föderalen Medien abgeschnitten gewesen sei, sei zum Herrn dessen geworden, was wir in unserer Neusprache „Agenda“ und die Russen „Powestka“, also die Liste der wichtigsten aktuellen Themen, nennen würden. Zeitweise habe es geschienen, als würde der oppositionelle Schwanz tatsächlich mit dem kremlschen Hund wedeln.

Putin, lesen wir weiter, sei so verängstigt gewesen, dass er niemals den Nachnamen „Nawalny“ benutzt habe. Man habe gemunkelt, er habe eine Art mystischen Schrecken vor seinem Konkurrenten empfunden, ähnlich wie ein alttestamentlicher Jude, der sich niemals gewagt habe, den Namen des Schöpfers auszusprechen.

Trotz Verfolgung habe Nawalny eine politische Struktur aufgebaut. Er, so Radziwinowicz, habe großen Spaß gehabt, Nawalny zu begleiten, der vor den Moskauer Bürgermeisterwahlen durch Moskauer Hinterhöfe gelaufen sei und die Bewohner geschickt davon überzeugt habe, dass es sich lohne, auf ihn zu setzen. Er habe die Köpfe und Herzen der Menschen berührt. Nach der für Nawalny erfolgreichen Kampagne, nach der Wunder an der Wahlurne eingesetzt werden mussten, um eine Stichwahl zwischen Nawalny und Putins Favoriten Sergei Sobjanin zu vermeiden, habe Putin Schlüsse gezogen und Nawalny nicht zu den Präsidentschaftswahlen 2018 zugelassen. Aber auch damals sei Nawalny erfolgreich in die Erzählung des Kreml eingedrungen und habe den Ex-Präsidenten, Premierminister Dmitri Medwedew, entlarvt, der sich mit babylonischem Luxus umgeben habe und damit für Massenproteste gesorgt. Mit einer solchen Belastung, wie Nawalny und seinen aktiven Wahlkampfbüros landesweit, wäre Putin der geplante Krieg gegen die Ukraine schwergefallen. Daher auch der Mordversuch und dann seine Verurteilung zu lebenslanger Haft in den härtesten Lagern, die Russland zu bieten habe.

Doch selbst in einem Betonkerker hinter dem Polarkreis habe sich Nawalny nicht zum Schweigen bringen lassen. Auch von dort aus habe er sich in die kremlsche Erzählung einmischen können. In dem, dessen Namen sich Putin zu sprechen gefürchtet habe, habe die Welt den „russischen Mandela“ gesehen, der nach dem Durchleiden von Lagerqualen zum Staatsführer hätte werden können. Wie man sehe, habe diese Perspektive den Kremlherrn erschreckt. Deshalb habe er ihn ermordet, so Wacław Radziwinowicz in der Gazeta Wyborcza. 

Gazeta Wyborcza: Putins Manifest

Der russische Politikwissenschaftler und Publizist Iwan Prieobrażenski betont in einem Gespräch mit dem Blatt, dass die Ermordung von Alexei Nawalny sogar in den Augen von Wladimir Putin selbst als eine Art Manifest angesehen werde, durch das er uns habe mitteilen wollen, dass er zu allem bereit sei, nur um die Macht zu behalten. Putin, so der Experte, sei überzeugt, dass die Welt, obwohl er als blutiger Diktator und Kriegsverbrecher bezeichnet werde, der die Macht behalte, weil er Wahlen fälsche, dennoch mit ihm sprechen müsse. Denn Russland aus der Weltpolitik auszuschließen, sei unmöglich.

Geht es nach Prieobrażenski, werden sich die Repressionen in Russland weiter verschärfen. Putin, so der Experte, habe Angst, denn nach den Wahlen werde er eine weitere Mobilisierungswelle für das Militär ankündigen müssen. Und diesmal werde die Mobilisierung die großen Städte erfassen. Es werde Proteste und eine Zunahme der Unzufriedenheit mit der Regierung geben. Putin brauche einen Erfolg in der Ukraine, aus den entfernten Provinzen könne er keine weiteren Rekruten mehr pressen – daher müsse er sich jetzt das Herz der Bevölkerung vornehmen.

Seine Angst müsse groß sein, wenn er sich jetzt für die Ermordung Nawalnys entschieden habe. Ihm komme eine analoge Situation in den Sinn, zu der es nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gekommen sei. Die SS habe damals die im Konzentrationslager eingesperrten Gegner Hitlers ermordet. Damals habe das Hitler-Regime gewankt. Ob es heute mit dem Regime in Russland ähnlich sei, fragt Iwan Prieobrażenski in der Gazeta Wyborcza.

Rzeczpospolita: Putin darf weiterhin alles. Und der Westen?

Was könne der Westen tun, angesichts eines weiteren Beweises dafür, dass Putin zu allem fähig ist, fragt in seinem Kommentar für die konservativ-liberale Rzeczpospolita der Publizist Jerzy Haszczyński. Vor allem, so der Autor, könnte er der Ukraine helfen, die besetzten Gebiete zurückzuerobern, und gleichzeitig die Sanktionsschlinge um den Hals Moskaus enger ziehen und sich so bewaffnen, dass Putin oder sein Nachfolger nicht einmal an weitere imperiale Eroberungen denken würden. Das sei jedoch zweifelhaft. Besonders jetzt, sofort. Und Putin denke immer noch, dass er alles machen könne. Er brüste sich damit, dass Russland seit Jahrhunderten eine Außenpolitik betrieben hat, auf die es Lust hatte, und auf niemanden gehört hat. „Wir beabsichtigen nicht, diese Tradition zu ändern“, habe er auf der Sicherheitskonferenz in München im Jahr 2007 gesagt. Wenige hätten das damals ernst genommen. Heute, nach mehr als einem Jahrzehnt, seien es mehr. Aber immer noch zu wenige, so Jerzy Haszczyński in der Rzeczpospolita.

Rzeczpospolita: Kann der Westen Russland aufhalten?

Und der Politikwissenschaftler und Philosoph Marek Cichocki erinnert in seinem Beitrag, ebenfalls für die Rzeczpospolita, an George Kennan. Der damalige amerikanische Botschafter in Moskau, lesen wir, habe in einem 1947 anonym in "Foreign Affairs" veröffentlichten Artikel festgestellt, dass das Ende des Krieges für Stalin lediglich ein günstiger Ausgangspunkt für den Beginn einer Politik neuer Eroberungen gewesen sei, mit dem endgültigen Ziel, die Hegemonie des kommunistischen Russlands über die Welt zu erlangen. Wenn Amerika Stalin also nicht stoppe, habe Kennan betont, würde Stalin sein Ziel erreichen. Kennans Schlussfolgerung sei bahnbrechend gewesen. Denn selbst diejenigen, die den Kremlherrscher misstrauisch betrachteten, hätten ihn eher als Verbündeten des Westens im Kampf gegen das Dritte Reich angesehen. Auf diese Weise habe Kennan zur Entstehung der amerikanischen Eindämmungsstrategie beigetragen, die die Politik des Westens gegenüber dem sowjetischen Russland während des Kalten Krieges bestimmt habe.

Dieser Ansatz habe jedoch seine Kritiker gehabt. Und es seien nicht nur Menschen in Mittel- und Osteuropa gewesen, die auf diese Weise allein hinter dem Eisernen Vorhang gelassen worden seien. Die Eindämmungsstrategie sei auch von Amerikanern wie James Burnham für ihren defensiven Charakter kritisiert worden. Burnham habe argumentiert, dass Kennan tatsächlich die alte amerikanische Politik der Verteidigung der eigenen Einflusssphären gefördert habe, während das sowjetische Russland nicht die Art von traditioneller Großmacht gewesen sei, mit der man irgendwelche Abstimmungen treffen könne. Deshalb, so Burnham, sollte es besiegt und die Welt von ihm befreit werden.

Heute, so Cichocki, funktioniere die Welt anders und sei komplexer als zur Zeit des Kalten Krieges. Doch das alte Dilemma des Westens gegenüber Putins Russland bleibe so aktuell wie eh und je – ob die Eindämmung der russischen Expansion ausreiche oder eine Strategie der Befreiung von ihm notwendig sei, schreibt Marek Cichocki in der Rzeczpospolita. 

Autor: Adam de Nisau