Deutsche Redaktion

Spannungen auf der Linie Warschau-Kiew: "Marktplatz-Politik statt Diplomatie"

26.02.2024 12:02
Die deutschen Medien berichten heute über die Blockade der deutsch-polnischen Grenze durch die polnischen Landwirte. Auch in der polnischen Presse sind die Bauernproteste ein wichtiges Thema, der Fokus hier liegt allerdings auf den Spannungen auf der Linie Warschau-Kiew und auf Versuchen, die Proteste für innenpolitische Zwecke zu nutzen. Außerdem geht es auch um löchrige Russland-Sanktionen und wie Moskau angrenzende Staaten als Mittelsmänner nutzt, um an sanktionierte Waren zu gelangen. Und: Wie ernst sollte man die Stimmen aus Moskau nehmen, die dazu aufrufen, den 2+4 Vertrag zu kündigen? Die Einzelheiten in der Presseschau.
Łotwa wprowadza zakaz importu produktów rolnych z Rosji i Białorusi
Łotwa wprowadza zakaz importu produktów rolnych z Rosji i Białorusishutterstock/Octa corp

Dziennik Gazeta Prawna: Kiew stellt Ultimatum

Wie Dziennik Gazeta Prawna in seiner aktuellen Ausgabe erinnert, ist für morgen ein Sternmarsch der Landwirte in Warschau geplant. Heute sollen die Landwirtschaftsminister der EU über die Proteste sprechen. Die Zeitung nimmt auch Notiz von den zunehmenden Spannungen auf der Linie Warschau-Kiew in Bezug auf die Blockade der polnisch-ukrainischen Grenze. 

Noch am Freitag, lesen wir, seien Premierminister Denys Schmyhal und Vertreter der ukrainischen Regierung an der Grenze erschienen und hätten ein Treffen mit Polens Regierungschef Donald Tusk gefordert. Schmyhal habe dabei gedroht, dass, wenn die Übergänge nicht bis zum 28. März freigegeben werden, die Ukraine Vergeltungsmaßnahmen ergreifen wird. Der Versuch, ein Treffen zu erzwingen, sei von der polnischen Seite schlecht aufgenommen worden. Auf technischer Ebene gebe es nämlich keine schnelle Lösung. Es habe also - abgesehen von PR und dem Versuch, Druck auszuüben - keine Rechtfertigung dafür gegeben, dass es zu einem Treffen an der Grenze kommt, so die Zeitung.

Dziennik/Gazeta Prawna: Marktplatz-Politik statt Diplomatie

Aus diesem Grund kritisiert der Publizist und Kriegskorrespondent des Blattes Zbigniew Parafianowicz den Stil der politischen Manöver von Staatspräsident Selenskyj und seiner Regierung als Jahrmarkts–Dipomatie für Telegram und das Portal X und bezeichnet die Forderungen von Schmyhal als populistisch. 

Der Versuch, Tusk oder Duda zu einem Treffen mit Selenskyj an der Grenze zu zwingen, so der Autor, sollte eine öffentliche Züchtigung sein, während der polnische Politiker - am besten vielleicht noch in Begleitung von Ursula von der Leyen - sich erklären würden, warum sie der Ukraine Schaden zufügen. Schmyhal, so der Plan, würde fünf Schritte zur Öffnung der Grenze festlegen, eine Frist setzen und Vergeltung ankündigen, falls die Forderungen nicht erfüllt werden. Letztes Jahr sei es ähnlich gewesen. Damals habe Selenskyj „nur“ die Isolation von Politikern der Vereinigten Rechten verordnet. Doch die Diplomatie des Marktplatzes sei eine Abkürzung ohne Erfolgschancen. Denn wie sich herausstelle, seien selbst unter Bedingungen eines radikalen innerstaatlichen Konflikts die wichtigsten Personen im Staat in der Lage, einigermaßen kohärent zu handeln. Weder Tusk noch Duda seien zur Grenze gefahren. Es sei nicht ausgeschlossen, dass Selenskyj den polnischen Präsidenten aus diesem Grund von den Jahrestagsfeierlichkeiten ausgeladen hat. Aber das sei eher nebensächlich. In Kiew sei Duda nicht anwesend gewesen. Aber auch keine Amerikaner, Briten, Franzosen und Deutschen. Es sollte eher Selenskyj daran gelegen sein, Duda in Kiew zu haben, und nicht umgekehrt. Der ukrainische Präsident sei es, der heute um Aufmerksamkeit werbe. Vielleicht sei es also an der Zeit für eine kühlere und rationalere Kalkulation dessen, was durch Druck, das Auslösen von Schuldgefühlen und Groll gegenüber der Ukraine erreicht werden kann. Schmyhal könne auch täglich an die Grenze kommen. Er könne sogar seine Regierung mitbringen. Aber das werde nichts lösen, so Zbigniew Parafianowicz in Dziennik Gazeta Prawna.

Gazeta Polska Codziennie: Regierung täuscht Landwirte

Die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie wirft der Regierungskoalition in ihrer Titelstory vor, die Landwirte vorsätzlich zu täuschen und hinter vorgehaltener Hand die Agenda Brüssels realisieren zu wollen. Als Beweis führt das Blatt Aussagen von Politikern der regierenden Koalition an, die, wie wir lesen, in der überwiegenden Mehrheit die Annahmen des Green Deals und der europäischen Klimapolitik unterstützen und zitiert PiS-Chef Kaczyński, der angekündigt habe, seine Partei werde für die Interessen der Landwirte kämpfen. Eine starke Landwirtschaft sei nicht nur Tradition, sondern ein notwendiges Element der Ernährungssicherheit des Landes. Und diese Sicherheit müssen wir haben, so PiS-Chef Jarosław Kaczyński.

Rzeczpospolita: Löchrige Sanktionen

Die konservativ-liberale Rzeczpospolita macht in ihrem heutigen Aufmacher auf das Problem der immer noch löchrigen Sanktionen gegen Russland aufmerksam, das auch viele polnische Unternehmen betrifft. Wie aus einem umfassenden Bericht des Beratungsunternehmens EY hervorgehe, so die Zeitung, hätten innerhalb von 18 Monaten nach Kriegsausbruch in der Ukraine mehr als zwei Drittel der untersuchten Unternehmen Änderungen in den Verträgen mit ihren Geschäftspartnern vorgenommen (69 Prozent) oder sogar auf den Import oder Export von Waren oder Dienstleistungen aus und in die osteuropäischen Märkte verzichtet (67 Prozent). Fast zwei Drittel der Unternehmen (63 Prozent) würden Änderungen in den Sanktionslisten beobachten und ihre Geschäftspartner manuell überprüfen. Doch obwohl fast drei Viertel der Befragten (73 Prozent) angegeben hätten, dass sie die Sanktionen nicht verletzt haben, und mehr als die Hälfte (51 Prozent), dass sie nicht unbeabsichtigt Sanktionen verletzt haben, seien EY-Experten der Ansicht, dass einige von ihnen sich der Tatsache solcher Verstöße nicht bewusst sein könnten, wenn diese nicht von Finanzinstitutionen entdeckt wurden. Der Grund für diese These: Aus Daten des Hauptstatistikamtes (GUS) gehe hervor, dass innerhalb von 18 Monaten nach Kriegsausbruch der Export von Waren und Dienstleistungen polnischer Unternehmen nach Russland zwar tatsächlich um 11 Milliarden Złoty, d.h. um 33 Prozent, zurückgegangen ist. Im gleichen Zeitraum sei jedoch der Export in die Türkei und in die Länder der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (Kasachstan, Belarus, Armenien, Usbekistan, Kirgisistan, Aserbaidschan, Tadschikistan) stark angestiegen, und zwar um 13 Milliarden Złoty, d.h. um 57 Prozent. Verglichen mit der Zeit vor der Einführung von Sanktionen gegen Russland und Belarus, d.h. mit den Jahren 2019–2021, seien die Handelsumsätze mit einigen eurasischen Ländern um mehrere hundert Prozent gestiegen. Dies sei etwa beim Export nach Kirgisistan der Fall, dessen Wert um 402 Prozent, und nach Armenien – dessen Wert um 401 Prozent gestiegen sei. Dies deute darauf hin, dass diese Staaten als Mittelsmänner dienen, die Russland mit den sanktionierten Waren versorgen. 

Die Schlussfolgerung aus der Studie sei banal, urteilt der Chefredakteur des Blattes Bogusław Chrabota. Man müsse den Handel mit dem Ausland abdichten, die Abnehmer gründlicher durchleuchten und diejenigen, die die Sanktionen umgehen, anprangern. Sonst werde die russische Wirtschaft wachsen, statt zu schrumpfen. Müsse man wirklich weiter ausführen, dass ein gestärktes und im Krieg gegen Kiew siegreiches Russland für Polen eine tödliche Gefahr wäre? Das würden heute nur noch Idioten nicht verstehen. Oder diejenigen, die böswillig agieren. Tertium non datur, so Bogusław Chrabota in der Rzeczpospolita. 

Rzeczpospolita: Eine Entscheidung, die uns in die Zeiten des Kalten Kriegs zurückversetzen würde

Aus Russland seien neuerdings immer häufiger Stimmen zu vernehmen, die angesichts des tieferen Engagements Deutschlands für die Ukraine eine Kündigung des 1990 in Moskau geschlossenen 2+4-Vertrags fordern, beobachtet ebenfalls in der Rzeczpospolita der Politologe und Philosoph Marek Cichocki. Wie der Autor erinnert, habe dieser Vertrag, der durch die Entscheidung der vier Nachkriegsmächte: der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs, sowie der beiden deutschen Staaten: der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zustande gekommen sei, die Frage des vereinten Deutschlands endgültig geregelt. Er sollte de facto einen Friedensvertrag ersetzen, der nach 1945 nie zwischen dem Bündnis der siegreichen Staaten und dem besiegten Deutschland geschlossen worden sei. Daher würde seine mögliche Kündigung durch Russland ein ernsthaftes Signal sein. Sie würde bedeuten, dass aus der Sicht des Kremls Europa zu einer Situation zurückkehrt, die während des Kalten Krieges bestand. Alle zwischen dem Westen und Moskau über die Nachkriegsordnung getroffenen Vereinbarungen würden somit für Russland jegliche Bedeutung verlieren. Es scheine, dass ein solcher Zustand die wahren Absichten der gegenwärtigen Herrscher des Kremls widerspiegeln würde, so Marek Cichocki in der Rzeczpospolita. 

Autor: Adam de Nisau