Deutsche Redaktion

"Artikel 5 darf nicht in der Rückeroberung von Schutt und Friedhöfen bestehen"

28.06.2022 12:54
Die NATO sollte sich schnellstmöglich von der Strategie verabschieden, Russland Bündnisstaaten erst angreifen zu lassen und diese erst dann zurückzuerobern, schreibt in ihrem Aufmacher die Rzeczpospolita. Die regierungsnahe Gazeta Polska plädiert dafür, die Doktrin der so genannten Forward Presence durch die einer Forward Defence zu ersetzen. Und: Laut Verteidigungsminister Błaszczak wollte der Kreml mit der Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze den polnischen Staat vor dem Angriff auf die Ukraine lähmen.
Szef gabinetu prezydenta: należy się spodziewać zmiany strategii obronnej NATO
Szef gabinetu prezydenta: należy się spodziewać zmiany strategii obronnej NATOMichal-CZ/Shutterstock

Rzeczpospolita: NATO muss mutige Entscheidungen treffen

In den vergangenen vier Monaten hat die NATO ihre Ostflanke zwar bedeutend gestärkt. Die Befürchtungen, was geschehen würde, wenn Russland sich nach der Ukraine für einen Angriff auf einen der baltischen Staaten entscheiden würde, seien dennoch nicht kleiner geworden, schreibt im heutigen Aufmacher der konservativ-liberalen Rzeczpospolita der Publizist Jerzy Haszczyński. Den Grund für das Unbehagen an der NATO-Ostflanke, so der Publizist, habe die estnische Premierministerin Kaja Kallas im Vorfeld des heute beginnenden NATO-Gipfels in Madrid gut auf den Punkt gebracht. Die bisherigen Pläne des Paktes, so die estnische Regierungschefin, würden vorsehen, dass Russland die Kontrolle über ihren Staat übernehmen könne und man erst dann, nach etwa einem halben Jahr versuchen werde, diesen zurückzuerobern. Was jedoch von den Gebieten übrig bleibe, die Russland unter seine Kontrolle bringe, sehe man in der Ukraine - Tote und völlig zerstörte Wohngebiete, Fabriken und Denkmäler. “Was würde von unserem historischen Erbe bleiben, von unserer Kultur, von der Altstadt in Tallinn?”, fragte Kallas.

Und mit diesen Gedanken, so Haszczyński, sei die estnische Regierungschefin nicht allein. Auch andere in unserer Region würden sich stärkere Garantien von der NATO wünschen, dass die Realisierung von Artikel 5 über die Verteidigung von angegriffenen Bündnisstaaten nicht in der Rückeroberung von Schutt und Friedhöfen bestehen darf. Es sei eine so weitgehende Stärkung der NATO-Ostflanke notwendig, dass Russland dort nicht erst mit dem Morden und der Zerstörung beginnt. Und es gehe hier nicht nur um die Zahl der an der Flanke stationierten Soldaten, sondern auch um modernste Ausrüstung, die so stark wie möglich von einem Angriff abschreckt. Daher, so Haszczyński, sollte auch die Diskussion über Atomwaffen kein Tabu mehr sein. Natürlich müssten solche Debatten mit Vorsicht geführt werden, da die Stationierung solcher Waffen für die Ostflanke auch das größte Risiko nach sich ziehen würde. Andererseits habe das Prinzip, laut dem man Russland nicht provozieren sollte, da es Atomwaffen habe, den Kreml bisher nur zu weiterer Aggression angespornt, statt Moskau von der Eskalation abzubringen. Schließlich habe Putin gerade erst die Stationierung von Atomwaffen in Belarus an der Grenze zur NATO angedroht. 

Vor einem Vierteljahrhundert, erinnert Haszczyński, habe die NATO mit Russland ein Dokument unterzeichnet, laut dem künftige NATO-Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa eine niedrigere Sicherheitskategorie haben sollten, als der Westen, also auch weniger Soldaten und weniger Waffen. Dieses Abkommen würde Russland schon seit Langem mit Füßen treten. Der Westen habe sich bisher trotzdem nicht von ihm verabschieden wollen. Nun wisse er, dass er es tun müsse. Und je mehr er sich von ihm verabschiede, je mehr Verpflichtungen er gegenüber der Ostflanke übernehme, die das blutrünstige Russland abschrecke, desto besser, so Jerzy Haszczyński in der Rzeczpospolita. 

Gazeta Polska Codziennie: Forward Defence statt Forward Presence 

Der anstehende NATO-Gipfel in Madrid ist auch ein wichtiges Thema in der  regierungsnahen Gazeta Polska Codziennie. Die Regierung in Warschau, erinnert das Blatt, mache systematisch auf die Notwendigkeit aufmerksam, die so genannte Forward Presence, also die Anwesenheit von NATO-Truppen an den Außengrenzen des Paktes, mit Forward Defence, also der aktiven Verteidigung der NATO-Flanke zu ersetzen. Zusätzlich würde Polen auch die Aufstockung der schon in Polen anwesenden Kampfgruppen auf das Niveau einer Brigade postulieren. Und im Kontext der gestrigen Aussagen von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg würden diese Forderungen auch realistisch erscheinen. Auch wenn für einen solchen Schritt, wie das Blatt anmerkt, grünes Licht von allen NATO-Staaten notwendig sei.

Zudem, lesen wir weiter, würde Staatspräsident Andrzej Duda auch darum appellieren, Russland eindeutig als Aggressor zu benennen und den Staat, der die Sicherheit der NATO am stärksten gefährdet. Wie der Chef des Büros für Nationale Sicherheit BBN, Paweł Soloch, nach dem gestrigen Vorbereitungstreffen vor dem Gipfel betonte, würde Polen in all diesen Bereichen nicht nur Deklarationen, “sondern auch eine konkrete schriftliche Bestätigung neuer systemischer Lösungen” erwarten, lesen wir in Gazeta Polska Codziennie.

Gazeta Polska: Migrationskrise an der belarussischen Grenze war der Beginn eines größeren Plans

Die wachsende Bedrohung von russischer Seite sei für die Regierung in Warschau schon seit der Migrationskrise an der Grenze zu Belarus klar gewesen, sagt in einem Interview für das Wochenblatt “Gazeta Polska”, dessen Ausschnitt heute ebenfalls die Gazeta Polska Codziennie abdruckt, Verteidigungsminister und Vizepremier Mariusz Błaszczak. Als die belarussischen Sicherheitsdienste begonnen hätten, mit Hilfe von an die Grenze transportierten Flüchtlingen, zuerst die litauische und dann die polnische Grenze anzugreifen, so Błaszczak, sei man sich bewusst gewesen, dass wir es mit einem vom Kreml geschriebenen Szenario zu tun hätten. Und dass es sich um den Anfang eines viel größeren Plans handelt, dessen Fortsetzung wir heute in der Ukraine sehen. Russland habe Polen mit Hilfe der sogenannten Migranten lähmen wollen. Falls es gelungen wäre, die Grenze zu stürmen, dann würden immer mehr neue Flüchtlinge an die Grenze gebracht werden. Deutschland hätte die Grenze zu Polen abgeriegelt und das Land wäre alleine mit Tausenden von Migranten geblieben, die Chaos und Unruhe stiften würden. Unter solchen Umständen wäre sogar der Sturz der Regierung denkbar und seiner Meinung nach, so Błaszczak, sei eben dies das Hauptziel des Minsker-Moskauer Plans gewesen. Dann wäre Polen auch nicht in der Lage, die Ukraine so stark zu unterstützen, wie es dies heute tue. Zu alledem sei es letztendlich nicht gekommen, da es Polen gelungen sei, die Grenze zu Belarus zu verteidigen.

Nun bestehe der nächste Schritt in einer deutlichen Stärkung der Abwehrmöglichkeiten, unter anderem durch eine Verdopplung der Größe der polnischen Armee. Er sei überzeugt, dass dies gelingen werde, auch da die Armee zunehmend zu einem attraktiven Lebensweg werde. In seinen Gesprächen mit jungen Menschen höre er häufig, dass sie die Armee aus Sorge um das Schicksal Polens wählen, so Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak im Gespräch mit Gazeta Polska.

Autor: Adam de Nisau