Deutsche Redaktion

Radosław Sikorski über Kriegsentschädigungen: Wir erwarten ein „sichtbares Zeichen" aus Deutschland

12.02.2024 07:03
In einem Interview mit dem Spiegel sprach der Chef des polnischen Außenministeriums u.a. über die Frage der Kriegsentschädigung für Polen, über Wachsamkeit gegenüber Putin und über die „große Bereitschaft zur Zusammenarbeit" mit Polen auf deutscher Seite.
Radosław Sikorski
Radosław SikorskiSebastian Indra / MSZ

„Der Wiederaufbau von Vertrauen braucht Zeit. Als ich mit meinen deutschen Partnern sprach, hatte ich vor allem den Eindruck, dass sie erleichtert sind. Erleichterung darüber, dass Polen nach einer langen Reise nach Europa zurückkehrt, dass wir wieder über gemeinsame Projekte sprechen können. Ich sehe eine große Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf deutscher Seite", sagte der polnische Außenminister auf die Frage nach den deutsch-polnischen Beziehungen der Regierung des Premierministers Donald Tusk.

Wie Minister Sikorski versicherte, werde die neue Regierung „nicht mehr gegen die Deutschen hetzen, die Dämonisierung des demokratischen Deutschlands wird aufhören. Wir wollen keine künstlichen Feindseligkeiten mit unseren Nachbarn. Die ehemalige Regierung der rechtskonservativen PiS brauchte sie für ihre Propaganda", betonte er.

Entschädigung für den Zweiten Weltkrieg

Was die 1,3 Billionen Euro Wiedergutmachung für die Schäden und Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs angehe, bleibe dies ein wichtiges Thema für Polen, fuhr der Außenminister fort. „Polen war zweimal Opfer des Zweiten Weltkriegs: von deutscher Seite und als die sowjetischen Truppen uns den Kommunismus aufzwangen", so Sikorski. Polen habe „gigantische materielle Verluste erlitten und sei jahrzehntelang in Armut versunken", betonte Sikorski. Geht es nach dem Diplomaten, halte Deutschland die Reparationsfrage zwar für abgeschlossen, erkenne aber „seine moralische Verantwortung". Wichtig sei deshalb „in erster Linie ein ,sichtbares Zeichen', ein Zentrum der Dokumentation, ein Zentrum des Dialogs, das das Leiden der Polen anerkennt und auch ein Ort der Erinnerung ist".

„Die Deutschen haben schließlich eine Gedächtnislücke. Sie wissen über den Holocaust, sie erinnern sich an die Blockade von Leningrad und Stalingrad. Aber sie haben vergessen, was sie der polnischen Zivilbevölkerung angetan haben", so Sikorski gegenüber der Spiegel. Er erinnerte an den ersten Luftangriff des Zweiten Weltkriegs auf Wieluń, das von der Luftwaffe zerstört wurde.

Fordert Polen weiterhin 1,3 Billionen Euro von Deutschland?

„Wenn Berlin dieses Geld überweisen will - gut! Wir werden sogar einer Kürzung zustimmen, wenn das Geld bis Ende des Jahres eintrifft", fuhr Sikorski fort. „Aber im Ernst: Geld ist ein schwieriges Thema in Zeiten des Krieges und der Krise. Wir bitten die deutsche Regierung, ein Paket vorzubereiten, das unsere Öffentlichkeit überzeugt und ihr zeigt: Aha, Deutschland ist bereit, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen".

Er schlug auch ein zweites sichtbares Zeichen vor. „Zum Beispiel den Wiederaufbau eines der zerstörten Gebäude in Warschau, vielleicht des Sächsischen Palais, durch die Deutschen. Die Deutschen könnten auch die medizinische Versorgung der Überlebenden finanzieren oder in die Verteidigungsfähigkeiten unserer Länder investieren, damit wir uns gemeinsam gegen Putin verteidigen können", so der Minister.

Die Bedrohung durch Putin

Der Spiegel fragte Radosław Sikorski, ob er die Gefahr sehe, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern die Wachsamkeit gegenüber der Bedrohung durch Putin nachlasse und damit die Unterstützung für die Ukrainer abnehme. „Ich verstehe, dass das Gefühl der Bedrohung abnimmt, je weiter man sich vom Schauplatz der Feindseligkeiten entfernt. Putin wurde vor internationalen Gerichten wegen Kriegsverbrechen angeklagt. Eine der wichtigsten Aufgaben für uns Politiker ist es, die öffentliche Meinung in dieser Hinsicht zu formen und immer wieder darauf hinzuweisen, mit wem wir es zu tun haben", betonte er.

„Ich setze mich seit Jahren für den Ausbau der europäischen Verteidigungskräfte ein. Die Aufmerksamkeit der USA wird sich auf die Rivalität mit China verlagern, unabhängig davon, wer Amerika regiert. (...) Deshalb müssen wir militärisch auf eigenen Beinen stehen. 80 Prozent der europäischen Bürger unterstützen dies ebenfalls", sagte Sikorski.

„Zeitenwende"

„Heute muss ich der Bundesregierung sagen: Wir finden diese Zeitenwende gut", sagte der Minister im Zusammenhang mit der von Bundeskanzler Olaf Scholz für Februar 2022 angekündigten Wende in der deutschen Sicherheitspolitik. „Die Frage ist natürlich, wie schnell Deutschland diese 100 Milliarden tatsächlich ausgeben wird und wie schnell die Bundeswehr wirklich modernisiert werden kann", betonte Sikorski. Grundsätzlich aber „gehen Polen und Deutsche jetzt in die gleiche Richtung - die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit angesichts von Bedrohungen".

Auf die Frage, ob er befürchte, Deutschland könnte erneut versuchen, sich mit Wladimir Putin zu versöhnen, sei sich Polen „bewusst, dass sich das Klima in Deutschland in den letzten zwei Jahren deutlich verändert hat. Es gibt immer weniger ,Putin -Versteher', gerade weil Putin gezeigt hat, wozu er fähig ist", erklärte Sikorski.

Kann die Ukraine den Krieg gewinnen?

Auf die Frage, ob Kiew den Krieg gewinnen könne, erzählte Sikorski über seine Erfahrungen aus Afghanistan. „Ich war in den 1980er Jahren als Kriegsreporter in Afghanistan. Ich sah, wie die Sowjetunion dort eine Niederlage einsteckte. Die Afghanen waren militärisch viel schwächer, und niemand im Westen erwartete, dass sie gegen die Armee des Imperiums gewinnen würden. Ich habe selbst durch ein Fernglas beobachtet, wie sie sich aus Kabul zurückzogen. Heute haben die Ukrainer ganz andere militärische Fähigkeiten, die halbe Welt steht hinter ihnen, und sie haben viel bessere Waffen als die afghanischen Mudschaheddin."

Auf die Frage nach einem möglichen Angriff Putins auf Polen oder die baltischen Staaten erklärte der Minister: „Putin will als der neue Peter der Große in die Geschichte eingehen. Wenn er gewinnt, wird er die Ukraine dem Erdboden gleichmachen, ihre Bevölkerung in seine Armee einberufen und sie als Basis für neue Kriege nutzen. Und ihn dann abzuschrecken oder zu besiegen, würde uns viel mehr kosten, als der Ukraine jetzt zu helfen".

„Putin versteht nur die Sprache der Gewalt", betonte Polens Chefdiplomat. „Mit dieser Denkweise folgt er dem Weg der Sowjetunion. Diese scheiterte, weil sie ein Wettrüsten mit dem Westen begann, bis sie implodierte. Putin rivalisiert jetzt mit der Hälfte der freien Welt, er kann nicht gewinnen", so Sikorskis Einschätzung in der Spiegel.


Quellen: PAP/Spiegel/ps