Deutsche Redaktion

Landschaft nach der Schlacht

08.08.2025 13:29
Belarus zum fünften Jahrestag der niedergeschlagenen Revolution. Ein Feuilleton von Jan Krzysztof Michalak. 
Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko bei der Stimmabgabe in einem Wahllokal in Minsk, 26. Januar 2025.
Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko bei der Stimmabgabe in einem Wahllokal in Minsk, 26. Januar 2025.EPA/BELARUS PRESIDENT PRESS-SERVICE

Taxifahrer 

Taxifahrer sind oft ein gutes Barometer für die Stimmung in der Gesellschaft. Schon nach ein paar Minuten Gespräch erfährt man bei ihnen oft, was wirklich los ist. So war es auch in Belarus – bis vor einiger Zeit.

Im Herbst 2020, während der Massenproteste nach den von Lukaschenko gefälschten Präsidentschaftswahlen, fuhr ich oft mit dem Taxi. Die Fahrer waren besser informiert als das regelmäßig blockierte Internet. Sie wussten alles über Aktionen, Festnahmen, Polizeisperren und die Misshandlung von Demonstrierenden – und sie hielten sich nicht zurück mit Kritik an den Behörden.

Neulich habe ich wieder versucht, ein Gespräch zu beginnen. Der Fahrer schaute nur düster in den Rückspiegel und sagte: „Sie wissen wahrscheinlich nicht, dass uns die Firma gezwungen hat, Mikrofone und Kameras im Auto zu installieren? Und die Speicherkarten müssen wir jetzt bei der Geschäftsführung abgeben.“

Der Rest der Fahrt verlief schweigend.

Ähnlich ist es im öffentlichen Nahverkehr. Früher waren S-Bahnen oder Minibusse (Marschrutki) wahre Diskussionsclubs, voller Stimmen und Emotionen. Heute setzen sich die meisten Fahrgäste Kopfhörer auf und starren schweigend in ihre Telefone. Die politischen Repressionen, die nach den damaligen Ereignissen begannen, dauern bis heute an. Niemand will das nächste Opfer des Systems werden.

Man könnte sagen, Lukaschenko sei es gelungen, die Gesellschaft durch extreme Repressionen zum Schweigen zu bringen. Doch auch unter dickem Eis fließt ein Fluss weiter. 

Aktivisten 

Laut belarussischen Menschenrechtsorganisationen haben die Behörden in den letzten Jahren rund 1.900 zivilgesellschaftliche Organisationen aufgelöst, die nicht unter staatlicher Kontrolle standen – von unabhängigen Medien bis hin zu Imkervereinen.

Zuerst traf es Medien und Menschenrechtsgruppen. Dann waren auffällige Organisationen mit bekannten Aktivisten an der Spitze an der Reihe. So wurde zum Beispiel die Vogelschutzorganisation „Schutz der Heimatvögel“ zerschlagen, und ihr Leiter Wiktor Fenztschuk erhielt zweieinhalb Jahre Straflager wegen Teilnahme an Protesten. Danach wurden auch kleinere Gruppen auf dem Land liquidiert.

Ziel der Sicherheitsdienste war es, den Menschen jede Möglichkeit zu nehmen, sich außerhalb der autoritären Staatsideologie zu engagieren. 

Ideologie  

Heute ist diese Ideologie allgegenwärtig – in jedem staatlichen Unternehmen wurde eine Stelle für einen offiziellen „Ideologen“ eingerichtet. Meist sind das ehemalige KGB-Mitarbeiter oder pensionierte Militärs.

Sie halten jedoch keine „politischen Informationsstunden“ wie zu Sowjetzeiten ab. Ihre Aufgabe ist vielmehr, Bewerber zu überprüfen und ihre politische Vergangenheit zu durchleuchten. Wer früher das Regime kritisierte oder wegen Protesten in Haft war, hat heute keine Chance auf einen Job im Staatssektor.

Dafür gibt es eine spezielle Datenbank namens „Unruhen“, die vom Sicherheitsapparat genutzt wird und Daten von mindestens 100.000 Belarussen enthält.

Ein befreundeter Unternehmer erzählte mir kürzlich, wie ihn das Ideologie-Referat des regionalen Exekutivkomitees anrief. Die Beamtin erklärte, dass künftig auch in Privatunternehmen Ideologen tätig sein sollen. Auf die Frage, ob das verpflichtend sei, antwortete sie: „Noch ist es nur eine Empfehlung, aber Firmen, die das freiwillig umsetzen, werden vom Staat ‚anders‘ behandelt.“

Als er fragte, ob er einen Fremden einstellen müsse, sagte sie: „Nicht unbedingt – auch jemand aus Ihrer Belegschaft kann Ideologe werden. Sogar Sie selbst.“ Er antwortete, er werde darüber nachdenken...  

Grenzen 

Reisen ins Ausland und Rückkehr nach Belarus sind weiterhin möglich – allerdings nutzen die Behörden jede Grenzkontrolle, um Handys und Laptops zu durchsuchen. Die Menschen werden gezwungen, ihre Geräte zu entsperren und den Grenzbeamten zur Überprüfung zu übergeben.

Die belarussische Grenzschutzbehörde ist dem KGB unterstellt. Schon ein einziges „ideologisch falsches“ Like in sozialen Netzwerken kann zu einer Festnahme führen: Eine Nacht ohne Matratze auf dem Revier, eine kurze Gerichtsverhandlung, dann 15 Tage Arrest oder eine saftige Geldstrafe wegen „Unterstützung extremistischer Aktivitäten“.

Befindet sich die betroffene Person zudem in der Datenbank „Unruhen“, droht ihr im Anschluss ein Strafverfahren wegen Teilnahme an Massenunruhen nach Artikel 342 des Strafgesetzbuchs – mit bis zu vier Jahren Haft.

Aktuell gelten rund 1.200 Menschen in Belarus als politische Gefangene.

Lukaschenko erklärte kürzlich öffentlich, er habe angeblich in Gesprächen mit den USA angeboten, einige von ihnen freizulassen – doch die Amerikaner hätten abgelehnt. Ob ihm das jemand glaubt, hat er wohl nicht geprüft. Wahrscheinlich weiß er selbst, dass ihm in Belarus kaum jemand noch glaubt.

Seit 2020 hat ein massiver Exodus eingesetzt – schätzungsweise 400.000 Menschen haben das Land verlassen, das nur neun Millionen Einwohner zählt. Viele von ihnen sind aktive Bürgerinnen und Bürger, die im Ausland belarussische Widerstandszentren aufbauen.

Auch im Land gibt es – trotz tiefer Konspiration – nicht nur passiven, sondern auch aktiven Widerstand. Hoffnung gibt den Regimegegnern etwa eine erfolgreiche Aktion belarussischer Cyberpartisanen, die gemeinsam mit der ukrainischen Gruppe „Silent Crow“ die Server der russischen Fluglinie Aeroflot lahmgelegt haben.

Denn eines ist allen klar: Ohne Putins Rückhalt und den massiven russischen Sicherheitsapparat hätte das Lukaschenko-Regime kaum Überlebenschancen. 

Spätphase des Kommunismus 

Ich beobachte seit Jahren die Entwicklungen in Belarus – und habe keine Illusionen: Autoritäre Systeme kennen nur zwei Wege – in den Totalitarismus oder in den Zusammenbruch.

In Belarus herrscht derzeit eine düstere Version der späten Volksrepublik Polen: absurd, repressiv, Marionette Moskaus, das in der benachbarten Ukraine einen brutalen, mittelalterlichen Krieg führt.

Ich sehe täglich die Gesichter der Belarussen – Freude ist darin kaum zu erkennen. Doch selbst nach fünf Jahren der Repression geben sie nicht auf – so sehe ich das zumindest.

Heute existiert Lukaschenkos Belarus so, wie die Volksrepublik Polen in ihrer Endphase: mit Kriegsrecht, Repressionsapparat und allgegenwärtiger Zensur. Damals gab es die zerschlagene Solidarność, die Staatssicherheit, Lebensmittelkarten, Denunziation – aber auch gesellschaftlichen Widerstand.

Später kam die Wende – und heute ist alles ganz anders. Vielleicht kann auch Belarus dieses Schicksal ereilen. Denn manchmal weht der Wind aus Westen ganz günstig. 

Aus Belarus für den Polnischen Rundfunk – Jan Krzysztof Michalak