Deutsche Redaktion

Kommentar: Wer hat wirklich Öl ins Feuer gegossen?

07.10.2025 09:48
Angela Merkel hat wieder gesprochen. Diesmal deutete sie in einem Gespräch mit dem ungarischen Portal „Partizán“ an, dass zur russischen Aggression 2022 auch Staaten beigetragen hätten, die seit Jahren Alarm schlugen: Polen und die baltischen Länder. Klingt das paradox? Eher wie bequeme Amnesie. Denn wenn jemand Berlin über Jahre konsequent vor Projekten warnte, die Europa in Abhängigkeit vom Kreml bringen würden, dann waren es eben polnische und baltische Politiker, Expertinnen und Journalisten. Ihre Diagnose war einfach: Jeder in die russischen Pipelines investierte Euro kehrt zu uns zurück — in Form russischer Aufrüstung, schreibt der Publizist und Historiker Sławomir Sieradzki. 
Angela Merkel
Angela MerkelFoto: ANGELOS TZORTZINIS/AFP/East News

Die Chronologie ist hier entscheidend. Zuerst Nord Stream 1 – Symbol strategischer Blindheit Europas, dann Nord Stream 2 – Symbol des Beharrens im Irrtum. Beide Leitungen sollten angeblich die Energieversorgung „entpolitisieren“ und Brücken bauen. In der Praxis aber schufen sie Putins Druckmittel auf die Union und einen finanziellen Strom, der die Modernisierung der russischen Armee erst ermöglichte. Als 2022 die ersten Salven auf die Ukraine niedergingen, tat sich Berlin schwer damit, einzugestehen, dass die Abhängigkeit von russischen Rohstoffen ein „fataler Fehler“ gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt war es jedoch bereits zu spät.

Es geht nicht nur um Gas. Bereits 2011 — also nach der russischen Aggression gegen Georgien — unterzeichnete das deutsche Rüstungsunternehmen Rheinmetall mit dem russischen Verteidigungsministerium einen Vertrag zum Bau eines hochentwickelten Ausbildungszentrums im russischen Mulino — eines Gefechtssimulators, der zehntausende Soldaten pro Jahr trainieren sollte.

Erst nach der Annexion der Krim 2014 stoppte die Bundesregierung das Projekt. Tatsache bleibt aber: Noch gestern investierte man mit Überzeugung in das Militärpotenzial eines Staates, der längst, wenn auch nicht immer offen, Krieg gegen seine Nachbarn führte.

In diesem Licht klingt die These, Warschau und die Hauptstädte der baltischen Staaten hätten den Dialog „erschwert“, wie ein Versuch, die Rollen umzudrehen. Als Berlin ein neues Dialogf-Fomat mit dem Kreml suchte, sagten die Staaten unserer Region — mit frischer Erinnerung an Georgien, den Donbass und die Krim — Gespräche ja, aber nicht zu Bedingungen, die den Aggressor legitimieren und die Rechnung den Schwächeren aufbürden. Das ist keine Russophobie, sondern elementarer Realismus. Und die Geschichte lehrt: Jedes weiche „business as usual“ mit Moskau endet tragisch, insbesondere für unsere Region.

Die Verteidigung der damaligen Politik wird heute gerne in elegante Begriffe gekleidet: Ostpolitik, Pragmatismus, Verantwortung für die Wirtschaft. In der Praxis aber lautete das Dogma: „Billige Energie beruhigt Putin“, während aus Warschau, Vilnius, Riga und Tallinn die Botschaft kam: „Füttert das Biest nicht.“ Berlin wollte glauben, Handel zähme ihn.

Heute fällt aus dem Mund der ehemaligen Kanzlerin erneut die Suggestion, der „Mangel an Dialog“ mit Putin habe seine Aggression provoziert. Oder: Hat die Aggression nicht vielmehr eine jahrelange Politik ermöglicht, die dem Kreml Mittel, Zeit und die Gewissheit der Straflosigkeit verschaffte? Es genügt, die Liefermengen an Rohstoffen und das Tempo der Modernisierung der russischen Streitkräfte im letzten Jahrzehnt zu betrachten, um das zu erkennen.

Wenn wir Ursachen suchen, dann bitte ehrlich

Es ist schwer, die Ironie zu übersehen, dass diejenigen, die gewarnt hatten, nun Belehrungen über angebliche „Mitverantwortung“ hören sollen. Wenn wir Ursachen suchen, dann bitte ehrlich. Die Hebel, mit denen Putin die Tür nach Europa aufriss, wurden in Berlin und Moskau gedreht — mit Beifall der Wirtschaft und Teilen politischer und medialer Eliten. Und als 2022 die Tür einstürzte, traf die Hauptlast des ersten Schlages die östliche Flanke. Suchen wir also nicht die Schuld in Warschau oder Tallinn, sonst übersehen wir die Chance, Lehren zu ziehen und alte Fehler zu vermeiden.

Am Rande: Rund um das Interview entbrannte ein Streit um die Interpretation. Manche Medien zitierten so, als würden Anschuldigungen einer „Mitverantwortung“ Polens und der Balten erhoben; andere erinnerten daran, dass es um den Widerstand gegen ein neues Format der EU-Russland-Gespräche 2021 ging. Umso wichtiger also: Bleiben wir bei den Fakten. Berlin hat jahrelang die energetische Abhängigkeit gestärkt, und Firmen mit deutschem Kapital halfen, die russische Armee zu trainieren. Fakt ist auch: In Osteuropa hatte niemand Illusionen über die Natur der kremlnahen Politik. Und Fakt bleibt: Als es zur Invasion in der Ukraine kam, waren es Polen und die baltischen Staaten, die als erste Hilfe leisteten. Wenn Europa also heute seine Lektion lernen will, sollte es mit einer einfachen Korrektur beginnen: jenen zuhören, die den kommenden Regen sehen, bevor er das Haus überflutet. Denn wir hier, an Weichsel und Daugava, Niemen und Pregel, werden die Hauptlast des Angriffs tragen.


Sławomir Sieradzki

Empörung nach Interview zum Ukraine-Krieg: “Merkel hat Blut an den Händen”

06.10.2025 12:33
Die Andeutungen der ehemaligen Kanzlerin, die eine Mitschuld Polens am Ausbruch des Kriegs in der Ukraine suggerierte, haben eine Lawine von Kommentaren im polnischen Internet ausgelöst. Sicherheitsexperte Szeligowski warnt davor, sich nur auf das Szenario russischer Truppen an der Weichsel zu fokussieren. Und: Ukrainischer Ex-Geheimdienstoffizier verteidigt Nord-Stream-Sabotage und erhebt schwere Vorwürfe gegen deutsche Ermittler.