Die Botschaft entstand am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils und war Teil einer Reihe von Schreiben, mit denen der polnische Episkopat andere Bischofskonferenzen zur Teilnahme an den Millenniumsfeiern 1966 einlud. Dennoch ging der Brief „an die deutschen Brüder“ inhaltlich weit über eine formale Einladung hinaus: Er bezog Stellung zu den polnisch-deutschen Beziehungen, erinnerte an die historischen Verwundungen und thematisierte auch das Leid deutscher Vertriebener.
„Die Erinnerung an den Krieg, an erlittenes Unrecht und Leid war sehr lebendig“, sagte Erzbischof Henryk Muszyński, der 1965 in Rom studierte. „Die erste Sorge war: ›Wie werden die Geschädigten reagieren?‹ Die zweite: ›Wie werden die Deutschen reagieren?‹“ Der Brief wurde von 34 polnischen Bischöfen unterzeichnet; Initiator und Hauptautor war Bischof Bolesław Kominek, der das Papier auch in der deutschen Fassung verfasste.
Kernaussage und theologische Begründung
Im Schreiben heißt es unter anderem, Polen verdanke „viel der westlichen Kultur, darunter auch der deutschen“, zugleich erinnere es an Gewalthandlungen und unermessliches Leid: „Was euphemistisch den Zweiten Weltkrieg genannt wird, … war für uns Polen ein Werk totaler Vernichtung und Auslöschung.“ Zugleich enthält der Text die zentrale Wendung, die bis heute diskutiert wird: „In diesem wahrhaft christlichen, aber auch sehr menschlichen Geist reichen wir euch … unsere Hände und gewähren Vergebung und bitten darum.“
Primas Stefan Wyszyński begründete später die Formulierung theologisch: Man habe „nicht als Diplomaten“ gesprochen, sondern „als Priester und christlich“. Die Versöhnungsforderung sei zugleich eine Anwendung der Konzilstexte – etwa des Dekrets über den Ökumenismus – in praktischer Form gewesen.
Reaktionen in Polen: Empörung und staatliche Kampagne
Die Veröffentlichung löste in Polen erhebliche Empörung aus. Die kommunistische Führung und staatsnahe Institutionen warfen den Bischöfen vor, nationale Interessen zu untergraben. In offiziellen Erklärungen hieß es, der Brief „greife in die lebenswichtigsten Interessen der Nation ein“ und „entweihe die Erinnerung an die Ermordeten“. Der Erste Sekretär Władysław Gomułka warf insbesondere Kardinal Wyszyński „Blindheit“ gegenüber der Geschichte vor.
Historiker verweisen auf das politische Klima jener Jahre: „Gleichzeitig begann Ende der 50er Jahre der Prozess der Einschränkung der Autonomie der Kirche als Institution“, erklärte Prof. Jerzy Eisler. Die staatliche Propaganda schürte Ressentiments und stilisierte Deutschland zum ewigen Feind – ein Klima, in dem die Bitte um Vergebung als provokativ empfunden wurde.
Motivation und Absicht der Bischöfe
Zeitgenössische Zeugen betonen, dass die Botschaft aus einem Bewusstsein kirchlicher Verantwortung heraus entstand. „Punkt war der Text des Apostels Paulus: ‚Gott versöhnte uns in Christus und beauftragte uns mit dem Dienst der Versöhnung‘“, sagte Erzbischof Muszyński. Der Brief sei als Dienst in der Welt gemeint gewesen, nicht als rein liturgische Geste.
Für die Verfasser ging es auch um eine moralische Positionierung: Professor Jerzy Eisler nannte es „großen Mut“, nur zwei Jahrzehnte nach dem Krieg – als viele Polen direkte Kriegserfahrungen hatten – das Thema Vergebung aufzugreifen.
Langfristige Wirkung und historische Einordnung
Wissenschaftler und kirchliche Kommentatoren sehen in den Worten „wir vergeben und bitten um Vergebung“ einen Wendepunkt in den polnisch-deutschen Beziehungen. „Diese Formulierungen bestimmten – zumindest in einem gewissen Maße – den Verlauf der Geschichte in den polnisch-deutschen Beziehungen“, schreiben Pater Roman Kuligowski und Pater Tadeusz Panuś. Für Karol Wojtyła, so heißt es weiter, prägte der Brief später auch sein Handeln als Papst, unter anderem in den Bemühungen um eine „Reinigung der Erinnerung“ vor dem Jubiläum 2000.
Gleichzeitig betonen Forscher wie Dr. Wojciech Kucharski, dass der Zusatz „wir bitten um Vergebung“ eine zusätzliche moralische Dimension eröffnete: Er impliziere, dass nicht allein die Deutschen Schuld trügen, sondern auch Polen Verantwortung für Verfehlungen hätten – ein Gedanke, der in der damaligen öffentlichen Stimmung auf Ablehnung stieß.
Die Botschaft von 1965 bleibt ein vielschichtiges Dokument: theologisch fundiert, politisch riskant und historisch folgenreich. Sie war Ausdruck eines kirchlichen Anspruchs auf Versöhnung und zugleich Auslöser heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen. „Die ausgestreckte Hand des polnischen Episkopats an das deutsche Episkopat war die kühnste und vorausblickendste Tat der Nachkriegsgeschichte Polens“, schrieb der Oppositionelle Jan Józef Lipski – ein Urteil, das die Ambivalenz des Briefes zusammenfasst.
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