Deutsche Redaktion

Politologe Weber im „Spiegel“: Europa sollte Polens Warnungen vor Russland ernster nehmen

04.10.2025 15:00
Der Politologe und Historiker Pierre-Frédéric Weber fordert die Staaten der Europäischen Union auf, Polens Einschätzungen zur Bedrohung durch Russland künftig stärker zu berücksichtigen. In einem Beitrag für Der Spiegel schreibt der Professor der Universität Stettin, die westlichen EU-Länder hätten „das Aggressionspotenzial Russlands zu lange nicht ernst genommen“.
Historiker Pierre-Frdric Weber
Historiker Pierre-Frédéric WeberUniwersytet Szczeciński

Weber erinnert an die Warnungen des früheren polnischen Präsidenten Lech Kaczyński, der bereits im August 2008 vor einer wachsenden Gefahr durch Moskau gewarnt hatte – während der russischen Invasion in Georgien. Diese Mahnungen seien in Berlin und Paris jedoch lange als Ausdruck „historischer Traumata“ Osteuropas abgetan worden. Erst der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 habe einen Kurswechsel ausgelöst.

„Der Schock durch den Angriff auf die Ukraine stoppte die bisherige Neo-Ostpolitik mit Projekten wie Nord Stream 2 praktisch über Nacht“, schreibt Weber. Auch die vergeblichen diplomatischen Versuche aus Berlin und Paris hätten vor Augen geführt, dass der Westen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin machtlos gegenüberstehe. Der mittlerweile berühmt gewordene lange Verhandlungstisch im Kreml sei „zum Meme westlicher Schwäche“ geworden.

Besonderes Misstrauen als geopolitischer Vorteil

Nach Auffassung Webers verfügt Polen aufgrund seiner historischen Erfahrungen mit dem russischen Imperialismus über eine besondere Sensibilität in Sicherheitsfragen. „In Warschau weiß man, dass der Kreml den Grundsatz pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten – nicht kennt“, betont er.

Entsprechend habe sich der polnische Außenminister Radosław Sikorski jüngst kritisch zu möglichen Sicherheitsgarantien für die Ukraine geäußert. Diese seien „unzureichend im Hinblick auf Russlands langfristige geopolitische Ziele“. Auch Sikorskis Ankündigung vor dem UN-Sicherheitsrat, auf weitere Verletzungen des polnischen Luftraums entschieden zu reagieren, sei folgerichtig.

Trotz gestiegener Bedeutung kaum Einfluss auf EU-Politik

Obwohl Polen seit Beginn des Krieges in der Ukraine sicherheitspolitisch an Gewicht gewonnen habe, spiele das Land in der außenpolitischen Entscheidungsfindung der EU weiterhin „nur eine Nebenrolle“, kritisiert Weber. Gründe dafür seien sowohl die „historisch belasteten Beziehungen zu Deutschland“ als auch innenpolitische Konflikte in Warschau.

Zudem wirkten die Folgen des Zweiten Weltkriegs bis heute nach. Zwar sei das provisorische Berliner Denkmal für polnische Opfer deutscher Besatzung ein positives Signal. Dennoch herrsche in Polen parteiübergreifend die Meinung vor, Deutschland habe „noch nicht ausreichend Wiedergutmachung geleistet“.

Zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Überheblichkeit

Weber macht zugleich auf Spannungen innerhalb der polnischen Gesellschaft aufmerksam. Trotz wirtschaftlicher Erfolge verfüge das Land über ein „tief verwurzeltes kulturelles Minderwertigkeitsgefühl“, das sich mitunter in „nationalistisch gefärbter Megalomanie“ äußere. Dies führe dazu, dass viele Wähler Parteien unterstützten, die der EU „sowjetischen Autoritarismus“ vorwerfen und rhetorische Strategien russischer Propaganda übernehmen.

Diese Entwicklung werde durch soziale Ungleichheiten und die Angst vor dem Verlust der mühsam erkämpften Souveränität verstärkt. Als Beispiel nennt Weber Patrouillen „selbsternannter Patrioten“ an der polnisch-deutschen Grenze.

„Keine sicherheitspolitischen Entscheidungen mehr ohne Polen“

Weber warnt eindringlich vor einer weiteren politischen Isolation Warschaus. „Ein innerlich geschwächtes und mit sich selbst beschäftigtes Polen, das sich von seinen europäischen Partnern abwendet, läge allein im Interesse Moskaus.“

Deshalb müsse Polen stärker in sicherheitspolitische Entscheidungsprozesse eingebunden werden. „Keine weiteren Konsultationen über Sicherheitspolitik – weder in Europa noch in Washington – sollten ohne Beteiligung Polens stattfinden“, fordert der Politologe.

Mit Blick auf die Debatte über die Rolle der USA schreibt Weber: „Wenn der Absturz russischer Drohnen im Osten Polens den deutschen Nachbarn etwas lehren sollte, dann dass die Sicherheit Deutschlands untrennbar mit Polen verbunden ist.“


Der Spiegel/Onet/jc