Deutsche Redaktion

Georgien: Verdacht auf chemischen Zusatz in Wasserwerfern

03.12.2025 09:55
In Georgien steht die Regierung unter dem Verdacht, bei der Auflösung regierungskritischer Proteste einen chemischen Kampfstoff aus der Zeit des Ersten Weltkriegs eingesetzt zu haben. Recherchen des BBC World Service deuten darauf hin, dass den Wasserwerfern der Polizei der Stoff Camite (Brombenzylcyanid) beigemischt worden sein könnte. Die Behörden in Tiflis weisen die Vorwürfe als „absurd“ zurück.
Gruzińska policja brutalnie tłumiąca protesty w 2024 roku
Gruzińska policja brutalnie tłumiąca protesty w 2024 rokuAA/ABACA/Abaca/East News

Auslöser der Ermittlungen sind zahlreiche Berichte von Demonstrierenden, die im November 2024 in Tiflis gegen die Aussetzung der EU-Beitrittsgespräche protestierten. Sie schilderten, das Wasser aus den Wasserwerfern habe „gebrannt“ und die Beschwerden hätten auch nach dem Abwaschen angehalten.

Der Kinderarzt und Protestteilnehmer Konstantin Tschachunaschwili berichtete laut BBC, Betroffene hätten über ein starkes Brennen der Haut geklagt, das sich beim Versuch zu waschen sogar verstärkt habe. „Das war kein normales Wasser, die Reaktion der Haut war extrem“. Zu den Symptomen zählten Atemnot, Husten, Erbrechen, Kopfschmerzen und starke Müdigkeit.

Historischer Kampfstoff mit starker Wirkung 

Nach Einschätzung von Chemiewaffenexperten und Ärzten könnten die Symptome auf den Einsatz von Camite zurückgehen. Dabei handelt es sich um Brombenzylcyanid, einen Stoff, der von Frankreich im Ersten Weltkrieg als chemisches Kampfmittel eingesetzt wurde und in den 1930er-Jahren aus Sorge vor langfristigen Gesundheitsschäden aus dem militärischen Gebrauch verschwand.

Ein ehemaliger Leiter der Waffenabteilung der georgischen Polizei, Lasha Schergelaschwili, erklärte gegenüber BBC demnach, er habe 2009 einen ähnlichen, „sehr starken“ Stoff getestet. Dieser sei „wahrscheinlich zehn Mal stärker“ gewesen als gängige Reizstoffe zur Aufstandsbekämpfung und habe sich nicht einfach abwaschen lassen.

Der US-Toxikologe Christopher Holstege, ein international anerkannter Experte, bestätigte gegenüber der BBC, die beschriebenen Beschwerden passten zu den Wirkungen von Brombenzylcyanid. „Die gemeldeten klinischen Effekte sprechen für diesen Stoff und gegen konventionelle Mittel wie CS-Gas, deren Wirkung deutlich schneller nachlässt“, sagte er. Holstege bezeichnete die Substanz als „außergewöhnlich reizend“.


Kritik von UN-Sonderberichterstatterin 

Kritik kommt auch von der UN-Sonderberichterstatterin für Folter, Alice Edwards. Sie bemängelte laut Bericht das Fehlen klarer internationaler Regeln für den Einsatz chemischer Zusätze in Wasserwerfern. Mittel zur Kontrolle von Menschenmengen dürften nur kurzfristige Effekte haben, betonte sie.

Die geschilderten, teils wochenlangen Beschwerden gingen weit darüber hinaus. Es sei notwendig, die Vorgänge in Georgien umfassend zu untersuchen – „einschließlich der Frage, ob es sich um Folter oder andere Formen missbräuchlicher Behandlung handelt“. Edwards sprach in diesem Zusammenhang von einer „experimentellen Waffe“, deren Einsatz hohe menschenrechtliche Risiken berge.

Regierung weist Vorwürfe zurück 

Die georgische Regierung reagierte mit scharfer Zurückweisung. Die Sicherheitskräfte hätten „im Rahmen des Gesetzes und der Verfassung“ gehandelt, hieß es in einer Erklärung. Man sei gegen „illegale Aktivitäten gewalttätiger Krimineller“ vorgegangen. Zu den konkreten Vorwürfen eines chemischen Zusatzes in den Wasserwerfern äußerten sich die Behörden zunächst nicht im Detail.

Das Innenministerium hatte bereits nach den Protesten erklärt, bei den Einsätzen seien Wasserwerfer, Pfefferspray und CS-Gas genutzt worden. Unabhängige toxikologische Beweise für den Einsatz von Camite liegen bisher nicht öffentlich vor; die BBC stützt sich vor allem auf Zeugenaussagen, medizinische Befunde und Experteneinschätzungen.

Hintergrund: Proteste gegen Stopp der EU-Annäherung 

Die Proteste in Tiflis hatten am 28. November 2024 begonnen, nachdem Ministerpräsident Irakli Kobachidse angekündigt hatte, die Gespräche über einen EU-Beitritt Georgiens bis 2028 auszusetzen. Die Beitrittsverhandlungen seien als „Instrument der Erpressung“ genutzt worden, argumentierte der Regierungschef. Eine EU-Integration könne „nicht als Akt der Gnade“ verstanden werden.

Die Entscheidung löste landesweit eine Welle von Demonstrationen aus, die sich über mehrere Wochen hinzogen. Nach Angaben des Innenministeriums wurden im Zuge der Proteste mehr als 400 Menschen festgenommen. Demonstrierende warfen der Regierung vor, einen prorussischen Kurs zu verfolgen und das proeuropäische Ziel der Bevölkerung zu missachten.

Auch am ersten Jahrestag der Entscheidung gingen erneut mehrere Tausend Menschen in Tiflis auf die Straße. Mit georgischen und europäischen Flaggen zogen sie über die Hauptstraße der Hauptstadt und versammelten sich vor dem Parlament. „Georgien gehört zu Europa, und wir werden nicht zulassen, dass eine prorussische Regierung, die sich durch Wahlbetrug an der Macht hält, uns unsere europäische Zukunft nimmt“, zitierte die Nachrichtenagentur AFP die Philosophin Ciala Nodia.

Die EU-Perspektive ist in der georgischen Verfassung verankert. Laut Umfragen unterstützen rund 80 Prozent der Bevölkerung einen Beitritt zur Europäischen Union.


PAP/AFP/BBC/jc

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