Deutsche Redaktion

Prof. Krasnodębski: Imperiale Versuchung für Europa

21.12.2020 10:54
Es lohnt daran zu erinnern, dass der Ostblock dank dem Widerstand Polens und Ungarns, dank ihrer stark ausgeprägten nationalen Identität und ihrem gewaltigen Freiheitsdrang, ins Wanken geriet. Die Rebellion an diesen in Konfrontation mit dem mächtigen Zentrum scheinbar zum Scheitern verurteilten Rändern des sowjetischen Imperiums trug maßgeblich zu dessen Zusammenbruch bei, schreibt Prof. Zdzisław Krasnodębski in seinem Feuilleton.
Soziologe, Professor an der Universitt Bremen, polnischer Abgeordneter des Europischen Parlaments.
Soziologe, Professor an der Universität Bremen, polnischer Abgeordneter des Europäischen Parlaments.Michal Wozniak/East News

Es lohnt daran zu erinnern, dass der Ostblock dank dem Widerstand Polens und Ungarns, dank ihrer stark ausgeprägten nationalen Identität und ihrem gewaltigen Freiheitsdrang, ins Wanken geriet. Die Rebellion an diesen in Konfrontation mit dem mächtigen Zentrum scheinbar zum Scheitern verurteilten Rändern des sowjetischen Imperiums trug maßgeblich zu dessen Zusammenbruch bei.

2007, zu Beginn der Finanzkrise, standen die Länder Südeuropas im Fokus der Kritik. Wiederbelebt wurde damals die Überzeugung von tiefen, trennenden kulturellen Unterschieden zwischen dem asketischen postprotestantischen Norden Europas und seinem ausschweifenden Süden, der sich wenig um Finanzen und um das Recht kümmere.

Man hütete sich allerdings, Italien oder Spanien aus der EU auszuschließen, sie „auszuhungern“, zu übergehen und den Druck auf diese Länder zu erhöhen (obwohl er im Falle Griechenlands in der Tat erhöht wurde). Die EU-Skeptiker saßen eher im Süden und erhoben dort ihre Stimme. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben behauptete, dass angesichts derart gewaltiger Unterschiede der Lebensstile und der Wertehierarchien eine Union keinen Sinn habe, und machte den Vorschlag, in Anknüpfung an die seinerzeit von Alexandre Kojève propagierte Idee eines lateinischen Imperiums eine gesonderte Union südeuropäischer Länder aufzubauen. Was wäre aber eine Union ohne Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland, in denen Europäerinnen und Europäer aus dem Norden so gern Urlaub machen und deren Sehenswürdigkeiten und Landschaften wir alle bewundern?

Mittelosteuropa darf nicht mit so viel Empathie und Sympathie rechnen. Seine Eigenart wird gegenüber dem im Westen entstandenen und heutzutage in Brüssel dekretierten Muster gewöhnlich als fehlerhaft und unvollkommen verstanden. Eine solche Denkweise ist tief in den europäischen historischen Narrativen verwurzelt. Der „europäische“ Charakter von Ländern, die östlich der Elbe lagen, wurde als Ergebnis der Übertragung eines zivilisatorischen Modells oder gar als Resultat einer Kolonisierung dargestellt. Was Mitteleuropa vorwärts brachte, sei angeblich aus dem Westen gekommen – was es hemmte, lag an heimischen Traditionen. Geistige Größen der Aufklärung wie Kant, Voltaire oder Diderot waren überzeugt, dass nur aufgeklärte Despoten die Nationen auf einen fortschrittlichen Weg zwingen können.

Dieses wenig raffinierte Denken beherrscht die Welt bis heute. Unsere Demokratie und unser erfolgreicher wirtschaftlicher Wandel seien – vielen Politologen und EU-Kennern zufolge – nicht unser Verdienst, sondern ein Geschenk der „Sozialisierung“ durch den Westen sowie der Zuschüsse aus den EU-Fonds. Wenn mitteleuropäische Länder auf ihre politische Eigenständigkeit pochen, ernten sie häufig Empörung, als handle es sich um gegen den Zeitgeist verstoßende Unanständigkeiten. Zuerst hatte die Visègrad-Gruppe den Westen durch ihre ablehnende Haltung in der Migrationsfrage gegen sich aufgebracht, nun tun Polen und Ungarn mit ihrem Veto das gleiche. Selbst die souveräne Zusammenarbeit im Rahmen der Drei-Meere-Initiative ruft schlecht versteckte Beunruhigung hervor: Wie konnte ein für Europa so wertvolles Projekt unbeaufsichtigt und eigenständig entstehen und sich entwickeln?

Die Länder Mittelosteuropas entstanden bzw. wurden wiedergeboren aus Ruinen der zusammengebrochenen Reiche – des osmanischen, habsburgischen, wilhelminischen und russischen. Mittel- und osteuropäische Ängste vor einem repressiven Imperium dürfen daher kaum verwundern. Hier lebt nach wie vor das Bewusstsein, dass es kein freies Individuum ohne eine freie Nation geben könne, dass die politische Freiheit eine Bedingung der individuellen sei. Die aus den USA nach Europa gekommene Idee der Selbstbestimmung legitimierte unsere Freiheit, obwohl sie inkonsequent und fehlerhaft umgesetzt wurde. Nicht einmal Ungarn stellt sie in Frage, trotz seiner großen territorialen Verluste nach dem Ersten Weltkrieg. Von nun an gab es und gibt es keine Kaiser mehr in Europa. Nach 1945 wurden mittel- und osteuropäische Länder allerdings dem sowjetischen Imperium einverleibt oder von ihm unterjocht. Als sie nach 1989 wieder zu freien Nationen freier Staaten wurden, schien dies der in Europa geltenden Geschichtslogik zu widersprechen. Eine Antwort darauf sollte in der Idee einer erweiterten Union bestehen – die auf Kompromisse gegründet ist, die Vielfalt schätzt, den Totalitarismus und großangelegte gesellschaftliche Experimente ablehnt und durch ihre Verträge den Mitgliedstaaten die Respektierung ihres jeweiligen Willens in strategischen Angelegenheiten zusichert.

Eine solche Perspektive scheint heute in immer weiterer Ferne zu liegen. Stärker wird dagegen die Tendenz zur Unterwerfung schwächerer und ärmerer europäischer Nationen. Man brauche, wie man uns zu überzeugen sucht, ein stärker vereintes und konsolidiertes Europa, in dem der Grundsatz der Einstimmigkeit keine Gültigkeit mehr habe. In dem „die europäischen Werte“ nach einer einheitlichen, allgemeingültigen Auslegung gelebt werden. Dort werde der Respekt vor der Würde eines jeden Menschen weder unbegrenzte Schwangerschaftsabbrüche noch Euthanasie, weder Bestellung von Kindern durch unterschiedlich zusammengesetzte bedürftige Paare noch Geschlechterwechsel auf Wunsch ausschließen. Die Tatsache, dass niemand diskriminiert werden darf, müsse die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen und der durch sie gewünschten Kinderadoption bedeuten. Menschenrechte würden dort einer wirksamen Einschränkung einer massenhaften Migration im Wege stehen. Und so weiter. Und der Rechtsstaat solle über die Wahrung der so verstandenen „Grundrechte“ wachen.

Die Union soll also zu einer großen Walze zur Uniformierung der europäischen Nationen gemäß einem für einzig richtig gehaltenen axiologischen Muster werden. Wir Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer reagieren aber allergisch auf einzig richtige Doktrinen – ein großes Experiment gesellschaftlicher „Seeleningenieure“, die einen neuen, besseren, emanzipierten Menschen kreieren wollten, haben wir bereits hinter uns. Und wir wissen, was am Ende dabei herauskommt …

Kein Zufall, dass sich einer solchen Unifizierung am heftigsten zwei Länder – Polen und Ungarn – entgegenstellen. (Genauso wenig ist es ein Zufall, dass das seiner demokratischen Traditionen bewusste Großbritannien als erstes Land die EU verlässt.) Es lohnt daran zu erinnern, dass der „Ostblock“ dank dem Widerstand Polens und Ungarns, dank ihrer stark ausgeprägten nationalen Identität und ihrem gewaltigen Freiheitsdrang, ins Wanken geriet. Die Rebellion an diesen in Konfrontation mit dem mächtigen Zentrum scheinbar zum Scheitern verurteilten Rändern des sowjetischen Imperiums trug maßgeblich zu dessen Zusammenbruch bei. Sollte uns das nicht vielleicht eine Warnung sein?

Prof. Zdzisław KRASNODĘBSKI


Der Text entstammt aus dem Magazin Wszystko co Najważniejsze. Weitere Feuilletons und Interviews finden Sie hier