Deutsche Redaktion

„Geopolitische Fantasien"

08.08.2023 13:00
Prof. Piotr Grochmalski über die deutsch-russischen Beziehungen. 
Der russische Prsident Wladimir Putin und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz nach ihrem Treffen in der Novo-Ogariovo-Residenz bei Moskau, Russland, 8.03.2008
Der russische Präsident Wladimir Putin und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz nach ihrem Treffen in der Novo-Ogariovo-Residenz bei Moskau, Russland, 8.03.2008PAP/EPA/VLADIMIR RODIONOV/RIA NOVOSTI POOL

Prof. Piotr Grochmalski ist polnischer Journalist, Kriegsberichterstatter, Politikwissenschaftler und Dozent an der Adam-Mickiewicz Universität in Poznań.

Herr Professor, dies ist eine Art politisches Déjà-vu, aber nur einige der Umstände sind ähnlich. Niemand spricht heute über Georgien im Zusammenhang mit einem schnellen Beitritt zur NATO, nicht weil die NATO dies nicht will, sondern weil dieses Land heute de facto vollständig von Russland kontrolliert wird. 

Prof. Piotr Grochmalski: Für mich ist dies die Konsequenz aus der damals für (US-Präsident) George Bush schockierenden Entschlossenheit von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie kämpfte damals dafür, die Ukraine und Georgien aus der NATO fernzuhalten. Um die ganze Angelegenheit so sehr wie möglich zu verwässern. Es gibt einen Moment, der die damalige Atmosphäre am besten wiedergibt. Der stellvertretende Leiter der russischen Diplomatie, Gruschkin, schlief damals an der Tür, hinter der diese wichtige Diskussion über die ukrainische und georgische Zukunft stattfand. Irgendwann verließ ein deutscher Diplomat, eine einflussreiche Persönlichkeit und heute deutscher Botschafter in der Türkei, für einen Moment den Raum, um ihm zu berichten und zu sagen, dass Russland beruhigt sein könne.

Das war die ganze Abfolge von Ereignissen, nach denen in Moskau Ruhe herrschte, die Zuversicht, dass die Pläne zur Destabilisierung und auch zur Übernahme Georgiens umgesetzt werden würden.

Eine sehr wichtige Version, die die Hintergründe des zweiten Besuchs des polnischen Präsidenten (Lech Kaczyński) in Georgien im Herbst schildert, besagt aus informellen Quellen, dass die Russen dennoch versuchen wollten, die Operation zu Ende zu bringen, dass sie eine Fortsetzung ihrer Expansion vorbereiteten. Es lohnt sich, dieses Thema unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass die Reise des polnischen Präsidenten in die Region zu einem Zeitpunkt stattfand, als die Russen die Wiederholung ihrer Aggression gegen Georgien vorbereiteten und die Weltöffentlichkeit großes Interesse an diesem Ereignis zeigte. Dies mag Moskau dazu veranlasst haben, keine weiteren Maßnahmen zu ergreifen. 

Wir haben auch eine gegenwärtige Sichtweise - die von Donald Tusk und auch Angela Merkel. 

Grochmalski: Angela Merkel behauptete immer noch, dass sie damals die Souveränität der Ukraine gerettet habe, dass ihre Entscheidung richtig gewesen sei, weil sie nicht zum Krieg geführt habe. Dabei übersieht sie völlig, dass es damals trotzdem einen Krieg gab und die Folge davon Menschenleben und Georgien waren. Und einen Moment später gab es trotzdem einen Krieg gegen die Ukraine. Außerdem ist dieses ständige Narrativ, dass Angela Merkel die Probleme ihrer Politik gegenüber Russland nicht sieht, verblüffend. Gleichzeitig mit dieser Haltung werden ihr nämlich immer mehr Auszeichnungen dafür verliehen, was für eine hervorragende Politikerin sie war.

Irgendwo im Hintergrund gibt es auch Donald Tusk, der aufgrund des Wahlkampfes versuchte, so zu tun, als ob er sich in gewissem Maße von einigen Äußerungen von Bundeskanzlerin Merkel distanzieren würde, was in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Es gab auch einen wichtigen Moment, als Merkle die Nord Stream2-Pipeline auf alle möglichen Arten vorantrieb, indem sie so tat, als sei es ein rein wirtschaftliches Projekt. 

Irgendwann versuchte Deutschland auch, Trumps Team zu bestechen, indem es anbot, rund 2 Milliarden zu investieren. Der aktuelle Bundeskanzler spielt bei diesem Bestechungsversuch im Moment eine Schlüsselrolle. Warum ist das so wichtig? 

Grochmalski: Eines der Argumente, die Merkel 2008 vorbrachte, war, dass die Ukraine noch nicht so weit sei, dass es zu früh sei, weil der Staat die Frage noch nicht gelöst habe und vor allem, dass die Gesellschaft nicht allgemein hinter der Idee stehe. Die Offenheit und die Bereitschaft der Ukraine, der NATO beizutreten, haben sich damals jedoch rasch weiterentwickelt. Paradoxerweise ebnete dieser Gipfel den Weg für den Beitritt Albaniens. Nur wenige hätten damals wirklich geglaubt, dass Albanien in vielerlei Hinsicht ein viel fortgeschrittenes Land war als die Ukraine, was seine Bereitschaft zum NATO-Beitritt anging. Zweitens war Angela Merkel diejenige, die die europäische Elite, einschließlich der deutschen Elite, mitgestaltet und weiter korrumpiert hat.

Sie wusste anfangs auch nicht, welche Schulden gegenüber der russischen Regierung sie von Schroeder geerbt hatte. Als sie entdeckte, dass dieser Mann im Grunde die Elite korrumpiert und Deutschland in riesige Verbindlichkeiten verwickelt hatte, die die Institutionen des Staates abdeckten, unternahm sie keine angemessenen Schritte, keine Ermittlungen, brachte niemanden ins Gefängnis, auch nicht Schroeder, der bereits ein Symbol für die größte Korruption in den Institutionen und dem wichtigsten europäischen Staat war. Wenn der wichtigste europäische Staat sogar symbolisch die Effektivität und die Mechanismen der russischen Korruption aufzeigte, dann sieht man deutlich die Heuchelei dieser Politik und das Erzwingen von etwas im Namen einiger angeblicher Werte, die auf die Energieachse Berlin-Moskau reduziert wurden. Dabei ging es auch um einige weitreichende geopolitische Fantasien.

Wenn man dazu noch die schlichte Realität bedenkt, mit der wir konfrontiert wurden, nämlich das Verhalten Deutschlands kurz vor der russischen Aggression gegen die Ukraine im Jahr 2022 und in den ersten Tagen nach der Aggression, dann kann man feststellen, dass Deutschland seine europäische Geopolitik im Grunde genommen verwirklicht hat. Nach dem Sieg Russlands hätten wir eine neue Situation, d.h. im Grunde ein zerstörtes Drei-Meeres-Projekt. Der Sieg Russlands in der Ukraine würde nämlich bedeuten, dass dieses Projekt zusammen mit Deutschland gefällt werden würde. Statt dessen würde man ein Projekt der Unterwerfung Europas vorbereiten, der Europäischen Union, dieses Raumes, um völlig neue Spielregeln einzuführen und die USA aus Europa zu drängen. Dies könnte zu einem massiven Ruck in der NATO führen, wenn Russland dieses Projekt realisiert hätte. Wir wissen das heute, weil bestimmte Elemente dieses Projekts, die nach dem Sieg Russlands stattfinden sollten, offengelegt wurden.

Wenn wir uns also vor Augen führen, mit welcher Realität wir es zu tun hatten, und das betraf vor allem Polen, und welche Rolle Donald Tusk zuvor bei diesen Projekten gespielt hatte, verstehen wir, warum er hier wieder erschienen ist. Schwer vorstellbar ist auch, dass das Land, das den größten Schaden durch das Dritte Reich erlitten hat, nicht reagiert, wenn der Sohn von Hitlers letztem Adjutanten, als Botschafter in Polen auftaucht. Die war eine völlige Provokation von deutscher Seite. Ernst Freytag von Loringhoven ist ein Mann des deutschen Nachrichtendienstes. Er war u.a. stellvertretender Leiter des BND mit Know-how über die Destabilisierung von Staaten. 

Die Welt der Diplomatie und die Welt der Geheimdienste überschneiden sich selbstverständlich. Ein Beispiel dafür ist William Burns, der derzeitige CIA-Chef, der früher US-Botschafter in Russland war. Dies spiegelt den Grad der Ernsthaftigkeit wider, mit der die Vereinigten Staaten Russland betrachten. In diesem Sinne kann die Entsendung eines Botschafters nach Polen, der früher stellvertretender Leiter des wichtigsten Nachrichtendienstes des mächtigsten Landes in Europa war, kaum als freundliches Signal betrachtet werden. Geheimdienste sind dazu da, Informationen von ihren Rivalen zu stehlen. Das ist etwas, das wir mit diesem offiziellen, klaren Wissen nicht ausschließen können. Darüber hinaus spielt natürlich auch die Familie eine Rolle. Das wirft die Frage nach der Rolle Deutschlands bei der ganzen Reset-Politik gegenüber Russland im Allgemeinen auf. Welches Kalkül dabei im Spiel war. Warum hat sich Deutschland auf diese Politik eingelassen und sie mitgestaltet. 

Grochmalski: Hier haben wir Klarheit. Sie ergibt sich aus der deutschen Geostrategie. Sie geht zurück bis zu der Entscheidung einer grundsätzlichen Wende. Die Vereinigten Staaten als das Land ins Visier zu nehmen, das Deutschland integrieren würde, und sich Moskau zuwenden. Henry Kissinger (US-Spitzendiplomat) selbst hat in seiner Diplomatie einmal gesagt, die Amerikaner fürchteten einen solchen gewaltsamen Umsturz. Er erkannte dann, dass es in den Händen der Russen liegen würde, den endgültigen Anstoß zur deutschen Wiedervereinigung zu geben. Deshalb begannen die Amerikaner, mit Moskau zu spielen. Sie haben Russland schon lange vor dem Zusammenbruch der UdSSR wirtschaftlich gefesselt.


Prof. Piotr Grochmalski ist polnischer Journalist, Kriegsberichterstatter, Politikwissenschaftler und Dozent an der Adam-Mickiewicz Universität in Poznań.

PR/PAP/jc/ps