Deutsche Redaktion

"Völlig falsche Strategie"

12.10.2021 10:11
In Polens Presse sorgen heute die Proteste gegen das Urteil des Verfassungsgerichts, die vom Anführer der oppositionellen Bürgerplattform und ehemaligen EU-Ratspräsidenten, organisiert wurden, für Schlagzeilen. 
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Rzeczpospolita: Völlig falsche Strategie

In Polens Presse sorgen heute die Proteste gegen das Urteil des Verfassungsgerichts, die vom Anführer der oppositionellen Bürgerplattform und ehemaligen EU-Ratspräsidenten, organisiert wurden, für Schlagzeilen.

So schreibt Maciej Strzembosz für die zentristisch-konservative Rzeczpospolita, dass wenn Donald Tusk wirklich glaube, dass er zwei Jahre vor der Wahl mit Demonstrationen etwas erreichen könne, dann wolle er, wenn er kein Idiot sei, die nächsten Wahlen gar nicht gewinnen. Stattdessen glaube der Autor, dass das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts eine Falle für Tusk sei, in die dieser genüsslich tappe. Polen werde keinen eigenen "Maidan" ("Revolution der Würde" in der Ukraine 2013) haben. Der Frauenstreik habe zuvor gezeigt, erinnert Strzembosz in dem Blatt, dass man mit Demonstrationen auf den Straßen Polens nichts erreichen könne. Die Anführer solcher Revolten würden sich nämlich schnell radikalisieren und selbst solche bürgerlichen Bewegungen auslöschen, indem sie sich von der Realität und dem gesunden Menschenverstand abkoppeln.

Das Problem für Tusk und seine gesamte Bürgerplattform (PO), fährt der Autor fort, bleibe die Nichteinhaltung von Versprechen und zum anderen eine extreme Kultur der Übertreibung. Die Kultur der Übertreibung, wie der Autor sie nennt, mache jede Aktion der Regierungspartei PiS zum Weltuntergang, jeden Schritt hoffnungslos und dumm, jede Erklärung falsch und schädlich. Vom Sozialprogramm 500+ sollte der Haushalt kollabieren, erinnert Strzembosz, von der Senkung des Rentenalters - der Arbeitsmarkt, die staatliche Sozialversicherungsanstalt, etc. In politischen Prognosen sei deshalb die Glaubwürdigkeit der PO und von Tusk bei den Anhängern der Regierung gleich Null.

Ebenfalls niedrig bleibe sie in der Wählerschaft der Mitte, ohne die man keine Wahlen gewinnen könne. Und genau diese geringe Glaubwürdigkeit ermögliche es der PiS, mit dem sog. Polexit zu spielen. Zusätzlich versuche Tusk, heißt es des Weiteren, seine Konkurrenten auszuschalten, so wie es Kaczyński seit Jahren auf der Rechten getan habe. Und dann, wenn er die einzige Alternative zu den Machthabern bleiben würde, lesen wir, dann wäre sein Ziel, dass Kaczyński weitere vier Jahre ohne europäisches Geld regiere. Eine sehr riskante Strategie für Polen, glaubt Strzembosz. Und völlig falsch.

Falls Kaczyński für weitere vier Jahre souverän bleibe und Tusk alle anderen aus der Mitte und der Linken loswerde, dann wäre nur eines sicher: Weder die PiS noch Tusks Partei würden diese Wahlperiode überleben. Sie könnten von chaotisch aufkommenden Kräften hinweggefegt werden, so wie polnische Grossparteien in den 90er Jahren. Geht es nach dem Autor, habe Tusk deshalb nur dann eine Chance, Kaczyński zu schlagen. Er bräuchte eine breite und vielfältige Gruppe von Oppositionsparteien bei den Wahlen. Von den derzeitigen Oppositionsführern sei Tusk, Strzembosz nach, der talentierteste, daher würde er wahrscheinlich das größte Stück vom Kuchen abbekommen. Wenn er aber den einzig und allein den sog. Polexit für sein Spiel um die Macht ausnutzen wolle, lautet sein Fazit in der Rzeczpospolita am Montag, dann werde er nur den Pustekuchen abbekommen.


Gazeta Wyborcza: PiS wird müde. Die Demonstration ein Erfolg für Tusk 

Heute sei die PiS immer mehr müde. Die Demonstration in Warschau und in anderen Städten seien ein Erfolg für Tusk, sagt Prof. Antoni Dudek, Politikwissenschaftler und Historiker, gegenüber der linksliberalen Tageszeitung. Seit seiner Rückkehr in die nationale Politik, sei er der wichtigste Akteur auf Seiten der Opposition. Donald Tusk beabsichtige, Dudek nach, seine ganze politische Kampagne, die noch zwei Jahre dauern könnte, auf der Warnung vor dem sog. Polexit aufzubauen. Der wahre Grund der Demonstrationen, lesen wir, sei deshalb nicht der Kampf gegen die PiS, sondern der Kampf für Tusk, damit er die tatsächliche Führungsposition in der Opposition übernehmen könne.

Geht es nach dem Politologen, glaube Donald Tusk offenbar, dass er die Polen, die natürlicherweise EU-Anhänger seien, heißt es, davon überzeugen könne, dass die weitere Herrschaft der Partei Recht und Gerechtigkeit den sog. Polexit bedeute. Tusks Ziel sei deshalb sicherlich, die bereits bestehenden Ängste der Polen vor einem angeblichen Austritt Polens aus der EU zu verstärken.

Die Demonstration, heißt es weiter, seien auch der symbolische Beginn der Kampagne vor den Wahlen 2023. Geht es nach Dudek, habe Tusk anscheinend keine andere Idee, wie er die PiS schlagen könne. Tusk spiele aber ein sehr riskantes Spiel, glaubt Dudek. Der erste und wichtigste Indikator dafür, ob Tusk Recht habe, werde das Schicksal des nationalen Konjunkturprogramms sein. Entweder werde Polen die Zustimmung der Europäischen Kommission und somit Gelder dafür bekommen - dann, erklärt der Politikwissenschaftler, würde Tusks ganzes Narrativ zusammenbrechen. Oder Polen bekommt kein Geld aus dem Wiederaufbaufonds. In diesem Fall würde Tusk die verlorenen Milliarden Euro als Knüppel benutzen, um die PiS effektiv zu schlagen. Polen seien sich nämlich bewusst, wie viele Investitionen mit EU-Geldern erreicht werden. Für die PiS würde es deshalb ein riesiges Problem sein, diese Finanzmittel zu verlieren.

Donald Tusk, fährt Dudek fort, glaube, dass bis zu seiner Rückkehr in die polnische Politik nicht alles effektiv genug gemacht worden sei und er es besser machen werde. Die Zahl der gestrigen Demonstrationen spiele hierbei aber keine große Rolle - was zähle, bleibe, ob die EU-Gelder nach Polen fließen werden. Ansonsten, heißt es abschließend, habe Tusk keine Ahnung, wie Polen nach dem Machtverlust der PiS aussehen sollte. Dudeks Meinung nach, wolle er die Wahlen gewinnen, aber sich gleichzeitig nicht mit irgendwelchen konkreten Erklärungen die Hände binden.

Die meisten Anhänger der Opposition, lesen wir am Schluss in der Tageszeitung, würden zu dem nicht einmal einen Regierungsplan erwarten - sie würden nur die PiS entmachten wollen.

Gazeta Polska Codziennie: Ein schwieriges Wort: Deutschland 

Das regierungsnahe Wochenblatt schreibt indes, dass der 80. Jahrestag des ersten großen Verbrechens des Holocausts vergangen ist. Nach der Besetzung Kiews im Herbst 1941 haben die deutschen Besatzer innerhalb weniger Stunden fast die gesamte jüdische Gemeinde der Stadt Babyn Jar ind der Ukraine ermordet. An Babyn Jar könnte man sich bis heute auch deshalb sehr gut erinnern können, lesen wir, weil es eines der am besten dokumentierten deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs sei. Die Verbrecher sollen Fotos, darunter Farbfotos, gemacht haben und es sei auch eine umfangreiche Dokumentation erhalten geblieben. Kurz nach dem Krieg seien die SS-Männer, die an diesem Verbrechen beteiligt waren, vor ein sowjetisches Gericht gestellt worden. Ihre Zeugenaussagen sollen ebenfalls aufgezeichnet worden sein. Außerdem sollen nach einer Überschwemmung in den 1960er Jahren die Überreste der Ermordeten buchstäblich aus der Erde heraus geschwemmt sein.

Warum schreibt die Wochenzeitung darüber? Der Grund sei eine Pressemitteilung einer der führenden Nachrichtenagenturen der Welt, die es geschafft habe, in einer Meldung über die Gedenkfeier in Babyn Jar zu schreiben, ohne das Wort "Deutschland" zu verwenden. Ein Leser, der mit der Geschichte nicht vertraut sei, heißt es weiter, könnte somit denken, dass das Verbrechen von irgendwelchen Nazis begangen wurde, wahrscheinlich von Ukrainern, da die Zeremonie schließlich von der Ukraine durchgeführt worden sei. Lokale Kollaborateure, so das Wochenblatt, hätten zwar bei der Durchführung des Verbrechens geholfen, aber die erhaltenen Materialien sollen keinen Zweifel daran lassen, dass es sich um ein Verbrechen des Dritten Reiches handelte, das von Deutschen aus Deutschland geplant und durchgeführt wurde, betont Gazeta Polska Codziennie als Fazit.

Piotr Siemiński