Deutsche Redaktion

"Polen profitiert von der Umstrukturierung der globalen Lieferketten"

23.12.2022 12:26
Die wirtschaftlichen Herausforderungen und Prognosen für die kommenden Jahre sind ein wichtiges Motiv in den Vorweihnachtsausgaben der polnischen Tagesblätter. Neben Meldungen zur rasenden Inflation gibt es dabei auch Gründe für vorsichtigen Optimismus.
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zdjęcie ilustracyjneshutterstock/Flo Luetzel

Rzeczpospolita: So teuer war es noch nie

So teuer war Weihnachten noch nie, berichtet auf ihrer Titelseite die konservativ-liberale Rzeczpospolita. Für die Zutaten für das Abendessen zu Heiligabend für vier Personen, schreibt das Blatt unter Berufung auf eine langjährige durch die Redaktion geführte Studie,  werden wir in diesem Jahr 145 zł bezahlen. Dies bedeute, dass die Preise im vergangenen Jahr um etwa 23 Prozent gestiegen sind. Und die Rede sei hier nur von den wichtigsten Produkten für die selbstständige Zubereitung des Abendessens. Wenn jemand auf Fertigprodukte zurückgreife, werde er noch mehr bezahlen müssen. Alle Zutaten seien teurer geworden, beim Gemüse und Mehl angefangen. Für eines der Symbole von Heiligabend in vielen Häusern, also den Karpfen, müsse man gar um 50 Prozent mehr bezahlen als vor 12 Monaten, so Rzeczpospolita. 

Dziennik/Gazeta Prawna: Polen profitiert von der Umstrukturierung der globalen Lieferketten

Über Gründe, um trotzdem mit vorsichtigem Optimismus in die Zukunft zu blicken, schreibt in seiner Weihnachtsausgabe das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna. So bestehe zwar, wie Professor Marcin Piątkowski im Gespräch mit der Zeitung zugibt, die Gefahr, dass Polen als Frontstaat durch Investoren als Hochrisikoland angesehen wird. Bisher habe sich diese Befürchtung jedoch nicht bewahrheitet. Ganz im Gegenteil. Polen habe von der Umstrukturierung der globalen Lieferketten profitiert. Im Jahr 2021 habe das Land 25 Milliarden Dollar an Auslandsinvestitionen verzeichnet, fast doppelt so viel wie vor der Pandemie. Alles weise darauf hin, dass trotz des erhöhten Risikos weiterhin Kapital an die Weichsel fließt. Der Grund dafür sei, dass die Deutschen, die Franzosen und der Rest des Westens wissen, dass sie ihre Lieferketten verkürzen und die mit ihnen verbundenen Risiken reduzieren müssen. Gefragt danach, ob es Polen gelingen werde, diesen Kurs auch zu halten, weist Piątkowski darauf hin, dass Polen seit 33 Jahren in Punkto Wirtschaftswachstum die Nummer eins in Europa ist. Im kommenden Jahr, so der Experte, würden alle Volkswirtschaften der EU abbremsen. Auch die polnische, aber voraussichtlich weniger als die anderer Staaten. Die Wirtschaft würde voraussichtlich weiter wachsen, während Deutschland etwa in eine Rezession rutschen werde. Polen werde gegenüber seinem westlichen Nachbarn in Punkto Einkommen also weiter aufholen. Die größten Risiken seien eine Eskalation, beziehungsweise Ausweitung des Kriegs in der Ukraine sowie weitere Konflikte mit der EU, die den Fluss von EU-Geldern verringern könnten. Den Konflikt mit Brüssel müsse die Regierung schnellstens beenden, da er Polens strategischen Interessen schade. Zudem müsse der Staat auch seine Hausaufgaben vor allem in Bezug auf 5 Bereiche machen, die er die 5 i´s nenne: Institutionen, Investitionen, Innovationen, Immigration und Inklusion, so Professor Marcin Piątkowski im Interview für Dziennik/Gazeta Prawna. 

Dziennik/Gazeta Prawna: Polen dürfte Wirtschaftskatastrophe vermeiden

Vor dem Hintergrund der Katastrophen der letzten Jahre, sei es zugegebenermaßen manchmal schwer, Optimist zu bleiben. Dennoch gebe es gewisse Hoffnungsschimmer, betont auch der Publizist von Dziennik/Gazeta Prawna, Piotr Wójcik. Einer von ihnen sei der Arbeitsmarkt. Wie der Autor beobachtet, seien vorherige große Wirtschaftskrisen von hoher

Arbeitslosigkeit geprägt gewesen. Diesmal sei es anders. Natürlich seien die Reallöhne rückläufig, in einigen Ländern sogar stark rückläufig, was sich auch auf die Lebensqualität niederschlage. Es sei aber weitaus besser, weniger zu verdienen als gar nichts. Die Erfahrung langfristiger Arbeitslosigkeit senke das Selbstvertrauen, was zu einer Minderung des Einkommens führen könne, die bis zum Ende des Berufslebens anhalten könne. Daher sei es so wichtig, große Entlassungswellen und einen massiven Arbeitsplatzabbau zu vermeiden. Und dies gelinge Europa in letzter Zeit erstaunlich gut. Im Oktober sei die Arbeitslosenquote in der Eurozone auf einem Rekordtief von 6,5 Prozent gewesen. Zu Jahresbeginn habe sie fast 7 Prozent betragen. EU-weit habe die Arbeitslosigkeit bei 6 Prozent gelegen. Das sei der niedrigste Wert seit der großen Erweiterung der Gemeinschaft 2004. 

Und auch in Polen gebe es immer noch keine Anzeichen für einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Laut einem Bericht von Grant Thornton hätten Arbeitgeber im Oktober auf den größten Portalen 307 Tausend Jobangebote veröffentlicht - weniger als im Jahr zuvor, aber mehr als in den Jahren 2019 und 2020.

Zweitens, so Wójcik, könnten die zunehmenden Spannungen zwischen dem Westen und China (mit Russland als Juniorpartner) auch eine Gelegenheit für Industrien mit Standort in Europa und Nordamerika sein. Seit den 1990er Jahren habe es intensives Offshoring gegeben, d. h. die Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigen Arbeitskosten. Dies habe dem Westen zwar die Möglichkeit gegeben, billige Waren anzubieten, aber auch zur Verarmung der eigenen Arbeiterklasse geführt, einschließlich des Zusammenbruchs ganzer Regionen, wie etwa das Beispiel des amerikanischen

Rust Belt (der Bundesstaaten Michigan, Indiana, Ohio und Pennsylvania) zeige. Während der Pandemie habe Europa erkannt, dass die Verlegung der Produktion von kritischen Gütern - z.B. von pharmazeutischen Wirkstoffen - nicht nur die Kosten, aber auch die Resilienz der Volkswirtschaften in Bezug auf unvorhergesehene Ereignisse senke. Bereits im Jahr 2020 sei daher immer mehr über Reshoring, d. h. eine Rückkehr auf den alten Kontinent zumindest eines Teils der verlorenen Industriearbeitsplätze diskutiert worden. Internationale Spannungen hätten dazu geführt, dass jetzt zunehmend von Friendshoring die Rede ist, d.h. die Verlegung der Produktionsstandorte in nicht nur geografisch aber auch politisch nähere Staaten. Wenn sich Friendshoring durchsetze, könne dies ein starker Impuls für die industrielle Produktion in den Ländern unseres Zivilisationskreises werden. In dem Bericht von Reuters und A.P. Moller-Maersk "Ein Generationswechsel. Änderung der Beschaffungsstrategie" sei Polen an der Spitze der mögliche Standorte für die Produktionsverlagerung durch europäische Unternehmen zu finden. Als potenzielles Ziel

hätten 23 Prozent der Befragten Polen angegeben. Den zweiten Platz habe Deutschland  belegt(19 Prozent). Die Türkei werde von 12 Prozent in Betracht gezogen, was insofern überraschen könne, als dass Ankara politisch sehr unsicher zu sein scheine. Die gute Position Polens sei zum einen das Ergebnis der geografischen Nähe, und andererseits der (leider) immer noch niedrigen Löhne im Vergleich zu wohlhabenden westlichen Ländern, insbesondere in Euro gemessen. Denn das Lohn-Produktivitäts-Verhältnis in Polen gehöre zu den besten in Europa. Im Jahr 2021 habe der Stundenlohn in Polen 12 Euro betragen, aber in dieser Stunde sei ein Wert von 35 Euro produziert worden. Zum Vergleich: in

Italien werde in einer statistischen Stunde ein Wert von 58 Euro erzielt, aber zu einem Preis von 34 Euro.

Ein weiterer Grund für Optimismus sei die bisherige Antwort Europas auf die Energiekrise, die zeige, dass nach dem 24. Februar viele Staaten zur Vernunft gekommen sind. Schließlich bestehe auch die Chance darauf, dass die Erhöhung der Zinssätze in den USA abbremsen könnte. Von der damit verbundenen Schwächung des Dollars werde der Zloty profitieren.

Alles in Allem gebe es also Gründe für gemäßigten Optimismus. Der Westen habe sich als nicht so schwach erwiesen, wie der Kreml gedacht habe. Auch der warme Herbst und eine gute Ernte in diesem Jahr würden uns das Leben leichter machen. Kein Zweifel: Das Jahr 2023 werde schwierig werden. Doch daran hätten wir uns inzwischen wohl auch ein wenig gewöhnt. Schließlich werde es das vierte schwierige Jahr in Folge sein, so Piotr Wójcik in Dziennik/Gazeta Prawna.

Autor: Adam de Nisau