Deutsche Redaktion

„Kontakt mit der Wirklichkeit dringend nötig”

10.01.2023 10:08
In einem Gespräch mit der Wochenzeitschrift Do Rzeczy analysiert der Soziologe Marcin Palade die politische Lage in Polen vor der anstehenden Parlamentswahl im Herbst. Und: In seinem Feuilleton in der Wochenzeitschrift Sieci nennt der Publizist Konrad Kołodziejski mehrere Lehren, die man aus dem russischen Angriffskrieg ziehen sollte.
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DO RZECZY: Kontakt mit der Wirklichkeit dringend nötig

In einem Gespräch mit der Wochenzeitschrift Do Rzeczy analysiert der Soziologe Marcin Palade die politische Lage in Polen vor der anstehenden Parlamentswahl im Herbst. Vor den letzten Wahlen habe die Situation anders als jetzt ausgesehen. Und zwar 2019 sei die PiS-Partei mit einem Ergebnis von 42 Prozent klar in Führung gewesen. Eine so hohe Wählerzustimmung habe der PiS den Machterhalt garantiert. Im Dezember des vergangenen Jahres sei die Zustimmung für die Regierenden bei ca. 35 Prozent der Wählerstimmen gelegen. Man sehe also eindeutig, dass die Umfragewerte in den vergangenen vier Jahren um ein Fünftel zurückgegangen seien. Sollte sich die Zustimmung für die Regierungspartei nicht verändern, werde die Recht und Gerechtigkeit im kommenden Parlament über ca. 200 Abgeordnete verfügen – deutlich weniger als heute. Es sei schwer momentan eine klare Prognose zu geben, aber er gehe davon aus, dass die PiS immer noch die größten Chancen auf einen Wahlsieg habe, aber sollte sich die Zustimmung für die konservative Gruppierung nicht vergrößern, würden Jarosław Kaczyński und seine Leute die dritte Amtszeit hintereinander nicht mehr alleine regieren, meint Palade.

Klare Vorhersagen erschwere auch die Tatsache, dass man zwar ziemlich genau wisse, in welcher Aufstellung die Regierenden die Wahl antreten würden, es sei aber immer noch ungewiss, für welche Variante sich die oppositionellen Gruppierungen entscheiden würden. Dies habe aber einen enormen Einfluss auf die Verteilung der Abgeordneten-Mandate im kommenden Sejm. Das polnische Wahlsystem begünstige mittlere und größere Parteien. Jene Gruppierungen, die bei dem Urnengang ein Ergebnis von mindestens 12 Prozent erreichen, können mit einem Bonus rechnen. Das hießt, eine gemeinsame Liste von zwei oder drei kleineren Gruppierungen könne eine sehr gute Lösung sein, denn insgesamt würden sie mehr Sitze im Parlament bekommen. Problematisch werde aber die Situation, wenn eine der Parteien die 5-Prozent-Hürde nicht schaffe, dann werde das Ergebnis dieser Koalition automatisch viel schlechter und die Zahl der Parlamentssitz deutlich geringer. Er gehe davon aus, dass es aber mit großer Wahrscheinlichkeit eine gemeinsame Liste der Opposition nicht geben werde. Für viele Wähler der einzelnen oppositionellen Gruppierungen wäre der moralische Preis einer solchen Vereinbarung einfach zu hoch, sagt der Soziologe.

Wenn die PiS-Partei ihre Chancen erhöhen wolle, müsse sie alte-neue Wähler in der Mitte suchen, führt Palade fort. Das Problem der Partei bestehe jedoch darin, dass sie mit der Zeit die Fähigkeit verlernt habe, sich mit verschiedenen Schichten der Bevölkerung zu kommunizieren. Noch vor einigen Jahren habe die PiS ein sehr gutes Gespür für die Bedürfnisse verschiedener Gruppen der Gesellschaft gehabt. Die Gruppierung sei auch dazu fähig gewesen, gute Lösungen für die bestehenden Probleme vorzuschlagen. Das habe ihr die Wahlsiege in den Jahren 2015 und 2019 gebracht. Nun verliere die regierenden Gruppierung, immer mehr den Kontakt mit der Wirklichkeit, dafür die Überzeugung von der eigenen Unbeirrtheit wachse stets, urteilt der Soziologe Marin Palade im Gespräch mit der Wochenzeitschrift Do Rzeczy.

 

SIECI: Lehren, die man aus dem Krieg ziehen sollte

In seinem Feuilleton in der Wochenzeitschrift Sieci nennt der Publizist Konrad Kołodziejski mehrere Lehren, die man aus dem russischen Angriffskrieg ziehen sollte. Man könne momentan nicht beurteilen, wie sich die Situation an der Front entwickeln werde. Auch wenn man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen könne, dass Russland den Krieg doch verliere, bleibe ungewiss, wie lange der Konflikt noch andauern werde. Dies wiederum verursache, dass sich Polen in einer äußerst unstabilen Lage befinde. Deshalb werde das neue Jahr, laut Kołodziejski, weitgehend die Zukunft Polens bestimmen. Der Krieg habe die Sicherheitslage in Europa erschüttert. Zugleich habe dieser Konflikt aber das eigentliche Wesen der Dinge offenbart. Man sehe die Tatsachen nun so, wie sie sind, und nicht so, wie sie gesehen werden möchten, schreibt der Publizist.

Der Krieg habe uns vergegenwärtigt, dass die neue Geschichte Europas keineswegs eine reine Erfolgsgeschichte sei. Wir sollten uns dessen bewusst werden, dass der Frieden, den die Europäer in den vergangenen Jahrzehnten genossen haben, nicht ewig dauern würde. Für Moskau – und dies sei eine weitere wichtige Schlussfolgerung – sei der liberale europäische Pazifismus einzig und allein ein Zeichen der Schwäche gewesen. Und ein Ansporn zur Kriegsführung. Es möge paradox klingen, aber der europäische Versuch, den Krieg aus dem Bewusstsein zu verdrängen, habe die Gefahr des Kriegsausbruchs enorm erhöht. In Konfrontation mit Moskau habe der Pazifismus eine schmerzvolle Niederlage erlitten, es bleibe nur zu hoffen, dass sich der Brand nicht auf weitere Länder ausweiten werde.

Eine wichtige Lehre sei auch die Tatsache, dass der Kampfgeist und der Glaube an den eigenen, unabhängigen Staat die Ukrainer dazu bewogen hätten, die russische Armee heldenhaft aufzuhalten. Wie anders seien diese Werte im Vergleich mit jenen, die in den meisten westlichen Gesellschaften heute hochgeschätzt würden. Diese traditionellen Werte würden gerade Europa vor einem verheerenden Krieg beschützen. Selbstverständlich seien da auch die Waffenlieferungen aus den Nato-Ländern wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Polen von größter Bedeutung. Das Geld und die Waffen hätten aber nicht viel genützt, wenn die Ukrainer ihren Kampfgeist verloren hätten, stellt der Publizist Witold Kołodziejski im Magazin Sieci fest.

Jakub Kukla