Deutsche Redaktion

"Der lange Weg der Ukraine nach Europa"

06.02.2023 14:14
Beim Abschluss der Verhandlungen zu Polens EU-Beitritt vor 20 Jahren hat der damalige Kommissar für EU-Erweiterung, Günter Verheugen, betont, Polen habe wahrscheinlich die letzte Chance, den Sprung in eine bessere Welt zu schaffen. Die heutige Situation der Ukraine verdeutliche auf nachdrückliche Weise, wie recht er hatte. Außerdem: Welche Missverständnisse kursieren in Deutschland in Bezug auf Polen und den Zweiten Weltkrieg? Und: Kann man die Geburtenrate in Polen überhaupt noch retten? Mehr zu diesen Themen in der Presseschau.
Witold Waszczykowski przekonuje Parlament Europejski, by przyspieszyć proces akcesji Ukrainy do UE
Witold Waszczykowski przekonuje Parlament Europejski, by przyspieszyć proces akcesji Ukrainy do UEAlexandros Michailidis / Shutterstock.com

Rzeczpospolita: Der lange Weg der Ukraine nach Europa

In der Rzeczpospolita erinnert sich der Publizist Jędrzej Bielecki daran, wie im Februar 2014 eine Gruppe von EU-Abgeordneten nach der Annexion der Krim durch Russland der Ukraine die Unterstützung des Europäische Parlaments zugesichert habe. Obwohl das EU-Parlament in Punkto Erweiterung nicht viel zu sagen habe, so der Autor, sei er damals der Meinung gewesen, die Ukrainer hätten diesen Moment des Glücks verdient.

Neun Jahre später sei die Vorsitzende der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, auf dem EU-Gipfel in Kiew mit einer ähnlichen Formel erschienen. Sie habe versprochen, die ukrainische Flagge werde eines Tages in Brüssel hängen.

Die deutsche Politikerin, so der Autor, sei dabei jedoch ehrlicher gewesen als die Europaabgeordneten. Von der Leyen habe hinzugefügt, dass man als EU-Kandidat erst bestimmte Bedingungen erfüllen müsse, die Ukraine also erst dann zu den Mitgliedstaaten gehören werde, wenn sie zumindest grundlegende europäische Vorschriften eingeführt habe. Schon vor dem Ausbruch des Krieges, so Bielecki, sei dies eine Herkulesaufgabe gewesen. Heute sei es schwer, sich das überhaupt vorzustellen.

Aber auch der EU selbst, lesen wir weiter, fehle der politische Wille für eine Erweiterung. Angesichts des Krieges im Osten, der wachsenden Macht Chinas und der tiefen Wirtschaftskrise stehe ein vereintes Europa vor so vielen existenziellen Herausforderungen, dass nur wenige weitere Anstrengungen, wie den Beitritt der Ukraine etwa, auf sich nehmen wollen.

Vor kurzem, fährt Bielecki fort, sei ein weiterer runder Jahrestag vergangen. Vor 20 Jahren seien beim EU-Gipfel in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen Polens abgeschlossen worden. Damals habe der Kommissar für die EU-Erweiterung, Günter Verheugen, betont, Polen habe wahrscheinlich die letzte Chance, den Sprung in eine bessere Welt zu schaffen. Putin habe sich damals erst im Kreml festigen müssen. Der Westen sei noch nicht von der Krise betroffen gewesen. Und es seien noch Politiker an der Macht gewesen, die eine moralische Verpflichtung im Zusammenhang mit der tragischen Vergangenheit Polens empfunden hätten. Heute zeige das Schicksal der Ukraine nachdrücklich, dass eine neue Chance nicht so schnell gekommen wäre, hätte Polen sie damals nicht ergriffen, so Jędrzej Bielecki in der Rzeczpospolita.

PR24: Deutsche glauben, Polen habe vom Zweiten Weltkrieg profitiert

Das Wissen und das Verständnis für die polnische Geschichte bleibe in Deutschland sehr gering, sagt im Gespräch mit dem Polnischen Rundfunk der in Deutschland ansässige Historiker, Prof. Bogdan Musiał. Hinter Polens Westgrenze, so der Historiker, herrsche die Auffassung, dass Polen kein Recht habe, sich als Opfer des Zweiten Weltkriegs zu bezeichnen. Unter den Opfern von z. B. Konzentrationslagern würden Juden, Roma und Sinti oder sogar Homosexuelle genannt, nicht aber Polen, erinnert Musiał.

Geht es nach dem Historiker, würden die Deutschen in Bezug auf Polen und den Zweiten Weltkrieg auch glauben, die Deutschen seien die Opfer und die Polen die Gewinner gewesen. Schließlich habe Polen die deutschen Ostgebiete, aus denen die Deutschen vertrieben wurden, erhalten. Für Argumente, Polen habe diese Gebiete nicht aus freiem Willen erhalten, sondern im Austausch für seine eigenen verlorenen Ostgebiete, würden die Deutschen ebenfalls kein Verständnis haben. Ihrer Meinung nach habe Polen keinen Anspruch auf die östlichen Grenzgebiete gehabt. Sie seien von der Zweiten Republik verbrecherisch beschlagnahmt worden, als Polen 1920 in das bolschewistische Russland einmarschiert sei.

Hinzu komme, dass die Deutschen die polnische Geschichte auch in Bezug auf die Nachkriegszeit immer noch nicht verstehen würden. Geht es nach Musiał, würde die deutsche Öffentlichkeit nicht verstehen, dass herausragende Polen, wie Rittmeister Witold Pilecki, von Kommunisten, und nicht von anderen Polen, ermordet worden seien. Polens Nachkriegsgeschichte würde man in Berlin wie die eigene Vorkriegsgeschichte wahrnehmen. In Deutschland seien Adolf Hitler und die NSDAP jedoch infolge gerechter demokratischer Wahlen an die Macht gekommen. In Polen sei die kommunistische Herrschaft dagegen mit Gewalt durchgesetzt worden. Nur dank der Stärke der UdSSR, habe sie sich hierzulande überhaupt halten können, so Professor Bogdan Musiał im Gespräch mit dem Polnischen Rundfunk..

Dziennik/Gazeta Prawna: Kann man die Geburtenrate in Polen retten?

Im April jährt sich die Einführung des Flaggschiffprogramms der konservativen Regierung PiS „Familie 500+" zum siebten Mal. In der Zwischenzeit, schreibt indes DGP, gebe es fast nur schlechte Nachrichten zur Demographie des Landes. Obwohl die Geburtenrate anfangs leicht angestiegen sei, habe sie sich seit der Pandemie 2020 nur verschlechtert. Das Scheitern der  familienfreundlichen Politik in Polen lasse sich am besten daran ablesen, lesen wir, dass die Ankunft von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine für viele zu einer Quelle der Hoffnung in diesem Bereich geworden sei.

In vielen reicheren EU-Ländern würden weit mehr Kinder geboren als in Polen, heißt es. Daher, so die Zeitung, stimme offenbar etwas mit der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung an der Weichsel nicht.

Warum ist Polens familienfreundliche Politik gescheitert, obwohl in den letzten Jahren viel Geld, Energie und Aufmerksamkeit in diesen Bereich investiert wurde? Einen Grund sehe die Tageszeitung im kulturellen und moralischen Wandel in Polen. Die Struktur der Familien selbst habe sich verändert. Die Zahl der Eheschließungen sei um fast ein Viertel zurückgegangen.

Gleichzeitig steige die Zahl von kinderlosen Ehepaaren. Die größten Veränderungen gebe es bei informellen Partnerschaften. Die Zahl solcher Paare, die sich nicht für Kinder entscheiden, sei um mehr als 80 Prozent gestiegen. Die Zahl unverheirateter Paare mit Kindern habe um mehr als zwei Drittel zugenommen. Trotzdem bleibe der Anteil der unehelichen Kinder in Polen mit rund 26 Prozent immer noch einer der niedrigsten in der EU. Immer mehr Ehepaare würden überhaupt keinen Nachwuchs planen, so das Blatt. Kinderlosigkeit habe sich damit in Polen fast zu einem gleichwertigen Modell  im Vergleich mit der Mutterschaft entwickelt. Man könne nicht ausschließen, dass Frauen mit Kinderwünschen in einigen Jahren in der Minderheit sein werden. In einer solchen Situation sei es kein Wunder, so DGP, dass die Fruchtbarkeitsrate in Polen zu den niedrigsten in der EU gehöre

Einen Grund für die Zögerlichkeit würden Karrierepläne darstellen. Die Hindernisse hätten aber auch einen institutionellen und kulturellen Charakter. Eine wirksame familienfreundliche Politik, so das Blatt, sollte polnischen Frauen helfen, Beruf und Elternschaft miteinander zu verbinden. Eine weitere Aufstockung der Mittel für Familienförderung würde heute nicht mehr viel helfen. Krippenplätze, eine Verlängerung des Vaterschaftsurlaubs, flexible Arbeitszeiten für junge Mütter oder Einkommensschutz für Frauen während des Mutterschaftsurlaubs. Auf solche Lösungen und entsprechenden Rechtsvorschriften müssten sich Institutionen konzentrieren. Leider würde dies Polens Politikern nicht besonders gut gelingen, so Dziennik/Gazeta Prawna.

Autor: Piotr Siemiński