Deutsche Redaktion

"Zündstoff für ein schreckliches Szenario"

23.05.2023 13:04
Wie ein neuerlicher virtueller Meinungsaustausch zwischen dem Sprecher des Auswärtigen Amts und dem ukrainischen Botschafter in Polen zeigt, sitzen beide Nationen im Vorfeld des 80. Jahrestags des Massakers von Wolhynien auf einem Pulverfass, das die Beziehungen zwischen beiden Staaten gefährden könnte. Auch Garri Kasparov glaubt an eine Rückeroberung der Krim durch die Ukraine. Es wäre besser, wenn Lukaschenka jetzt noch nicht sterben würde. Und: Verwandelt Deutschland Polen in eine Müllhalde? Mehr zu unter anderem diesen Themen heute in der Presseschau.
80 lat temu w Janowej Dolinie na Wołyniu wymordowano kilkuset Polaków
80 lat temu w Janowej Dolinie na Wołyniu wymordowano kilkuset PolakówIgor Smirnow/KPRP/Twitter/@PrezydentPL

Rzeczpospolita: Zündstoff für ein schreckliches Szenario

Das Thema des Genozids in Wolhynien kann zu einem dramatischen Einbruch in den polnisch-ukrainischen Beziehungen führen, warnt in seiner Stellungnahme für die konservativ-liberale Rzeczpospolita der Publizist Jerzy Haszczyński. Ein erstes Signal, dieses Risiko ernst zu nehmen, so der Autor, sei das neuerliche indirekte Wortgefecht zwischen dem Sprecher des polnischen Außenministeriums und dem ukrainischen Botschafter in Polen. Der erstere, Łukasz Jasina, habe in einem Interview für das Portal Onet.pl suggeriert, dass der ukrainische Präsident sich für das Massaker entschuldigen und dass die Ukraine etwas mehr Verantwortung für Wolhynien übernehmen sollte. Der zweitere, Wasyl Zwarycz, habe dies auf Twitter kommentiert und betont, dass Versuche, von der Ukraine Deklarationen in Bezug auf die Vergangenheit zu erzwingen “unzulässig und bedauernswert” sind. Später habe er den Tweet gelöscht, was positiv einzuschätzen sei. Das Problem sei jedoch da. Und die Temperatur der Debatte werde steigen, denn der Genozid von Wolhynien werde sich im Juli zum 80. Mal jähren, just zu dem Zeitpunkt, wenn die Ukrainer voraussichtlich mitten in ihrer Gegenoffensive sein werden. Die polnischen Behörden, so Haszczyński, sollten jetzt auf den Versuch verzichten, eine Entschuldigung zu erzwingen. Am wichtigsten sei ein Sieg der Ukraine an der Front und die künftige Sicherheit unseres Teils des Kontinents. Andererseits sei die Zeit, in der Russen Kriegsverbrechen an ukrainischen Zivilisten begehen, auch ein Anlass für die ukrainischen Eliten, über die Verbrechen in Wolhynien zu reflektieren. Vor allem die Eliten sollten sich die Frage stellen: wenn wir den Mord an einigen hundert Einwohnern von Butscha als Völkermord bezeichnen, wie sollten wir das Massaker von Wolhynien von 1944 nennen, bei dem ukrainische Nationalisten, oft unterstützt von der lokalen Bevölkerung mindestens 50-60 Tausend Vertreter der polnischen Minderheit ermordet hatten. 

Ein zusätzlicher Grund zur Sorge, so Haszczyński, sei für ihn die Tatsache, das der später gelöschte Tweet im Moment eines großen Triumphes für die Ukraine erschienen sei, als die USA grünes Licht für die Lieferung von F-16-Flugzeugen gegeben hätten. Dies könne man als Botschaft an Polen interpretieren, dass Kiew nicht mehr an die Unterstützung Polens angewiesen ist, da es mächtigere Staaten an seiner Seite habe.

All dies liefere Zündstoff für ein schreckliches Szenario. Und es werden sich sicherlich solche finden, die ihn für eigene Zwecke nutzen wollen, so Jerzy Haszczyński in der Rzeczpospolita.  

Rzeczpospolita: Zeit für den Wind der Freiheit

Auch der russische Oppositionelle, langjährige Putin-Kritiker und Schachgroßmeister Garri Kasparov, hält eine Rückeroberung der Krim für realistisch. Wie Kasparov in einem Interview für die Rzeczpospolita beobachtet, habe die Ukraine bewiesen, dass sie begrenzte Ressourcen sehr effektiv nutzen kann. Und die Zeit würde für die Ukraine spielen. Derzeit könne immer noch von einem Kampf zwischen Quantität und Qualität die Rede sein. Er sei sich jedoch sicher, dass, wenn der Krieg noch ein Jahr dauern werde, die Ukraine schon im kommenden Frühling eine Überlegenheit in der Zahl von Flugzeugen, Munition und Artillerie erreichen werde. Die ukrainische Armee werde immer stärker und werde voraussichtlich noch vor Jahresende die stärkste Armee in Europa sein. Und dies sei gut so, denn wenn wir wollen, dass es in Russland zu Änderungen komme, dann müsse die Ukraine den Krieg gewinnen. Es sei die Pflicht aller russischen Patrioten, den Ukrainern bei diesem Sieg zu helfen. Die ukrainische Flagge in Sevastopol werde der Anfang vom Ende des faschistischen Regimes von Wladimir Putin sein, so Garri Kasparov im Gespräch mit der Rzeczpospolita. 

Gazeta Wyborcza: Besser, wenn Lukaschenka jetzt nicht stirbt

Es wäre besser, wenn Lukaschenka jetzt nicht stirbt, schreibt der Publizist der linksliberalen Gazeta Wyborcza, Wacław Radziwinowicz. Der belarussische Diktator, erinnert der Autor, sei krank. Und zwar offenbar so schwer, dass sich die Welt schon Gedanken mache, wer und wie seinen Platz einnehmen könnte. Die Welt und vor allem der Kreml. Als potentieller Nachfolger, lesen wir, würde der Sohn von Alexander Lukaschenka, Wiktor, gelten. Lukaschenka habe zwar offiziell versichert, dass er sich dies nicht wünsche. Aber laut dem Politologen Paweł Macukiewicz würde er in Wirklichkeit eben eine solche Lösung anstreben, denn nur so könne er seinen Nächsten nach seinem Tod Sicherheit garantieren. Den Sohn von Lukaschenka und aktuellen Chef des belarussischen Olympischen Komitees könnte sowohl Moskau akzeptieren, dass die dynastische Formel als stabilisierenden Faktor sehe, als auch die “Silowiki”, deren Vorgesetzter Lukaschenka Junior schon gewesen sei. 

Als ernsthafter Kandidat gelte jedoch auch Raman Haloutschanka, der seit drei Jahren Premierminister sei. Haloutschanka sei Berufsdiplomat und habe einst die belarussische Rüstungsindustrie beaufsichtigt, die für die russische Armee arbeite. Moskau kenne ihn also gut. Für die Opposition gebe es indes wenig Hoffnung. Ihre wichtigsten Vertreter, die in Belarus geblieben seien, würden heute hinter Gittern sitzen. Und aus dem Ausland sei es schwierig, Massenproteste zu orchestrieren. Oppositionsführerin Svetlana Tichanouska zähle darauf, dass sich die Eliten nach einem eventuellen Tod des Diktators in einen Machtkampf verwickeln und die Opposition das Chaos für sich nutzen könne. Doch darüber, dass solches Chaos nicht entstehe, würde Moskau wachen. Putin  sei in der Lage, auf dem Posten des mit ihm seit Jahren Katz und Maus spielenden Diktators jemanden zu installieren, der absolut loyal sei und ohne zu Zögern die belarussische Armee in die Ukraine schicken werde. Vor drei Jahren, als in Belarus nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen Massenproteste herrschten, habe Putin angekündigt, seine Soldaten zu Hilfe zu schicken. Die Eliten hätten die Drohung verstanden und die Proteste selbstständig unterdrückt. Lukaschenka sollte jetzt nicht sterben. Er sollte so lange leben, um vor Gericht gestellt werden zu können. Und wenn schon sterben, dann erst dann, wenn in Russland Chaos herrsche und Putin keine überschüssigen Sicherheitskräfte habe, die er nach Minsk senden könnte, so Wacław Radziwinowicz in der Gazeta Wyborcza. 

Gazeta Polska Codziennie: Deutschland hat Polen in eine Müllhalde verwandelt

Es vergeht so gut wie kein Tag, an dem die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie keinen kritischen Artikel über Deutschland publiziert. Auch die heutige Ausgabe ist keine Ausnahme. Im Aufmacher geht es diesmal um 35 Tausend Tonnen Müll, die illegal von deutschem Staatsgebiet aus nach Polen gebracht worden seien. “Trotz wiederholter Appelle unserer Dienste”, lesen wir, “wollen unsere Nachbarn keine Verantwortung für eine solche Menge von Abfällen übernehmen”. “Das ist inakzeptabel”, sagt im Gespräch mit der Zeitung Vize-Umweltminister Jacek Ozdoba. Geht es nach dem Politiker, versuche die Bundesregierung, das Problem zu verschweigen beziehungsweise als ein Thema darzustellen, für das die Bundesländer verantwortlich seien. Anders als Großbritannien, das seinerzeit in Bezug auf ein identisches Problem keine Probleme gemacht und Geld für die Räumung illegaler Müllhalden überwiesen habe. Aus diesem Grund habe Polen  eine Klage an den Europäischen Gerichtshof gegen Deutschland vorbereitet. “Wir zählen darauf, dass unsere Nachbarn doch noch etwas unternehmen. Die Prozeduren bei der Klage dauern ein wenig. Deutschland kann das Problem also noch lösen”, so der Vizeminister. 

Und der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Prof. Andrzej Przyłębski spricht in einem Interview mit dem Blatt von ersten Anzeichen dafür, dass Berlin eine Diskussion mit Warschau zu Entschädigungen für den Zweiten Weltkrieg in Erwägung ziehen könnte. Darauf, so der ehemalige Diplomat und aktuelle Vorsitzende des Instituts De Republica, könnte die Tatsache hindeuten, dass Vize-Außenminister Arkadiusz Mularczyk im Rahmen seiner letzten Berlin-Visite auch zu vertraulichen Gesprächen in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik eingeladen worden sei. Derzeit, so Przyłębski, würde Berlin generell noch die Parlamentswahlen in Polen abwarten wollen. Doch wenn die Vereinigte Rechte gewinne, werde die Bundesregierung ernsthaften Gesprächen mit Warschau über Kriegsentschädigungen zustimmen müssen, da sie sonst große Imageschäden riskiere, so Professor Andrzej Przyłębski im Gespräch mit der Gazeta Polska Codziennie.

Autor: Adam de Nisau