Deutsche Redaktion

"Verfassungsgericht als politische Waffe"

16.11.2023 13:34
Es sei gut, dass das Verfassungsgericht alle Rentner gleich behandeln will. Allerdings lasse die Tatsache, dass das Thema anderthalb Jahre im Gericht lag und die Entscheidung, die den Staatshaushalt knapp 3 Milliarden Złoty kosten werde, erst nach den Wahlen im Expresstempo gefällt werde, an den Absichten der Richter zweifeln, schreibt Tomasz Pietryga von der Rzeczpospolita. Die Publizisten analysieren heute in diesem Kontext, wie die Recht und Gerechtigkeit der neuen parlamentarischen Mehrheit das Leben mit Hilfe des Verfassungsgerichts erschweren könnte und welche Wege die neue Koalition hat, um sich dagegen zu wehren. Außerdem geht es einmal mehr auch um die Zukunft der öffentlichen Medien in Polen.
Magdalena Biejat o wyroku TK ws. aborcji
Magdalena Biejat o wyroku TK ws. aborcjiLongfin Media / Shutterstock

In Bezug auf den Auftrag zur Regierungsbildung an Mateusz Morawiecki durch Staatspräsident Andrzej Duda sprechen die nationalkonservativen Medien von einem notwendigen Schritt, um tiefgehende Diskussionen im Parlament und die Bildung einer parteiübergreifenden Koalition zu ermöglichen. Mit einem Wort: Es geht um gute demokratische Traditionen. Die liberalen Medien sehen den Schritt dagegen als Mittel, um den mit der Regierung PiS in Verbindung stehenden Personen Zeit für eine Evakuierung zu geben, Spuren zu verwischen und Kompetenzen an Institutionen zu verlagern, die von der künftigen Mehrheit unabhängig sind. Und schließlich auch dafür, um der neuen Regierung Kukuckseier ins Nest zu legen, die ihre Handlungsfähigkeit untergraben, wie etwa im Fall des neuesten Urteils des Verfassungsgerichts zu den sogenannten Juni-Rentnern. Darin hatte das Verfassungsgerichtshof festgestellt, dass die seit 2021 geltenden Rentenbestimmungen verfassungswidrig Personen, die im Juni in den Ruhestand getreten sind, benachteiligen. Aufgrund komplexer Vorschriften zur Rentenanpassung hatte diese Gruppe geringere Bezüge erhalten als Rentner aus anderen Monaten. 

Rzeczpospolita: Trauriges Fazit aus gutem Urteil

Wie die konservativ-liberale Rzeczpospolita in der heutigen Ausgabe berichtet, werde die Umsetzung dieses Urteils für den Staatshaushalt in den Jahren 2024 bis 2033 zusätzliche Ausgaben in Höhe von 2,8 Milliarden Złoty bedeuten. Zusätzlich habe das Gericht, wie das Blatt erinnert, die Aufhebung der Gehaltseinfrierung für Richter angeordnet, was weitere Kosten in Höhe von 500 Millionen Złoty verursacht.

Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs bezüglich der sogenannten Juni-Renten stellt einen bedeutsamen Schritt für die Gleichbehandlung der Bürger dar, schreibt in seinem Kommentar zu dem Richtspruch der Publizist der Rzeczpospolita, Tomasz Pietryga. Und dennoch, so der Autor, falle es heute schwer, an die Ehrlichkeit der Absichten des Verfassungsgerichts zu glauben, das systematisch bewiesen habe, sich bei seinen Entscheidungen vor allem vom Interesse der PiS leiten zu lassen. Denn das Thema der Juni-Rentner, so Pietryga, habe anderthalb Jahre lang ungelöst beim Gericht gelegen. Man habe sich nicht für eine schnelle Überprüfung entschieden und einige Regierungsvertreter hätten sich kritisch über einen Ausgleich für die Juni-Rentner ausgesprochen. Vor allem, wie Pietryga betont, aus Sorge vor dem Einfluss eines für die Rentner günstigen Urteils auf das Haushaltsdefizit. Erst nach den Wahlen im Oktober, als PiS die Mehrheit verloren habe, sei die Angelegenheit plötzlich im Expresstempo behandelt worden. Mit dem voraussichtlichen Amtsantritt Donald Tusks als Premierminister und einer sich ändernden politischen Landschaft scheine die PiS weniger Bedenken bezüglich der Haushaltsausgaben und mehr Interesse an politischen Manövern zu haben, die die neue Regierung bereits zu Beginn ihrer Amtszeit mit zusätzlichen 3 Milliarden Złoty belasten könnten.

Tusk, so Pietryga, stehe nun vor der Herausforderung, mit dieser Situation zurechtzukommen. Er werde auch sehen, welche Belastung der durch von der PiS nominierte Richter dominierte Gerichtshof für sein Kabinett darstelle. Diese Festung der abtretenden Regierung habe jedoch gewisse Schwachpunkte. Neben den sogenannten Doppelgänger-Richtern sei dies auch der umstrittene Vorsitz von Julia Przyłębska, dessen Legitimität sowohl extern als auch intern angezweifelt werde. Tusk könne diese Schwäche ausnutzen, indem er politisch belastende Urteile nicht im Amtsblatt veröffentlicht, eine Praxis, die zuvor von der Ministerpräsidentin der PiS, Beata Szydło angewendet worden, obwohl sie damals keine stichhaltige Begründung für diese kritikwürdige Vorgehensweise gehabt habe. Tusk befinde sich jedoch in einer stärkeren Position, da der Status von Przyłębska umstritten sei. Das Gericht sei seit 11 Monaten gelähmt, da fünf der Verfassungsrichter der Meinung seien, dass die Amtszeit von Przyłębska im Dezember 2022 abgelaufen ist. Und es sei der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, der die Veröffentlichung der Urteile im Amtsblatt absegne. Von einer letzten Festung könnte Przyłębska damit zu einer Belastung für die PiS werden. 

Gazeta Wyborcza: Verfassungsgericht als politische Waffe

In der Zwischenzeit werde die abtretende Regierungspartei PiS voraussichtlich das Verfassungsgericht für einen Kampf auf zwei Fronten gegen die neue parlamentarische Mehrheit nutzen wollen, urteilt in der heutigen Ausgabe die linksliberale Gazeta Wyborcza. Erstens, so das Blatt, könne das Verfassungsgericht alte, kostenintensive Fälle wieder aufgreifen und die neue Regierung mit diesen belasten. Zweitens könne es natürlich  Gesetze, die von der neuen parlamentarischen Mehrheit verabschiedet worden seien, für verfassungswidrig erklären. Denn um Gesetze vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten, seien lediglich die Unterschriften von 50 Abgeordneten erforderlich, was es der PiS ermögliche, problemlos Gesetze zur Überprüfung an das Gericht weiterzuleiten. Wenn die neue Koalition ihr Versprechen einlöse, die drei “Doppelgänger”-Richter abzusetzen, würden drei der insgesamt 15 Plätze im Verfassungsgericht frei werden. Zwei weitere Amtszeiten, darunter der der Chefin des Gerichtshofs Przyłębska, würden erst 2024 auslaufen, gefolgt von zwei weiteren im Jahr 2025. Im Laufe der nächsten Jahre werde sich die Kräfteverteilung im Verfassungsgerichtshof also schrittweise ändern, so Gazeta Wyborcza. 

Dziennik/Gazeta Prawna: Wie geht es weiter mit den Urteilen des Verfassungsgerichts?

Das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna macht in der heutigen Ausgabe darauf aufmerksam, dass in den letzten Jahren insgesamt etwa 80 Urteile mit Beteiligung der aus Sicht der neuen Koalition fehlbesetzten Richter gefällt worden sind. Eine Absetzung der so genannten Doppelgänger würde laut einigen Experten auch zur Annulierung der von ihnen gefällten Urteile führen. Neben der Veröffentlichung von Korrekturen im Amtsblatt durch den Premierminister würden derzeit zwei weitere Ansätze diskutiert. Der erste sehe die Erarbeitung von Übergangsgesetzen vor, die auf den Beschlüssen über die Doppelrichter basieren und den rechtlichen Status klären sollen. Dies könnte jedoch auf ein präsidentielles Veto stoßen. Der zweite Ansatz beinhalte neben den drei Beschlüssen über die Doppelrichter eine vierte politische Erklärung, die allgemein die Ungültigkeit von Urteilen feststellt, die unter Beteiligung dieser Richter gefällt wurden. Ein Abgeordneter der Bürgerkoalition spreche von etwa 20 Urteilen, deren Aufhebung gesetzliche Änderungen erfordern könnte. Eine Taskforce aus Politikern und Experten der neuen Koalition würde derzeit noch über die Vorgehensweise diskutieren. 

Sieci: Attacke auf die öffentlichen Medien

Ein weiteres heiß diskutiertes Thema ist die Zukunft der öffentlichen Medien in Polen. Noch vor den Wahlen hatte Donald Tusk angekündigt, das “Regierungs-Fernsehen der PiS in öffentliches Fernsehen” zu verwandeln und die gesellschaftliche Kontrolle über das öffentliche Fernsehen wiederherzustellen. Und erntet seit den Parlamentswahlen für diese Ankündigung heftigen Gegenwind von Seiten der nationalkonservativen Presse. Er persönlich halte es für unwahrscheinlich, dass die neue Regierung versuchen werde, die Mitglieder des Rats der Nationalen Medien per Beschluss abzusetzen, sagt im mit der Recht und Gerechtigkeit symphatisierenden Wochenblatt “Sieci” der Chef des Rats, Krzysztof Czabański. Eine Amtszeitverkürzung eines Ratsmitglieds sei nur im Falle seines Todes, einer schweren Krankheit, einer rechtskräftigen Verurteilung für ein Verbrechen oder eines Rücktritts möglich. Der Versuch, dies per Beschluss zu tun, wäre ein Verfassungsdelikt, so Czabański. Viel wahrscheinlicher sei der Versuch, die Vorstände in den öffentlichen Medien auszusetzen und eigene Leute einzuführen. Und tatsächlich sei der Kultusminister dazu berechtigt, Vorstände auszusetzen. Um jedoch den nächsten Schritt zu tun und einen Kommissar einzusetzen, müsste laut Czabański das Recht verwässert werden, unter Verwendung falscher Vorwände. Die neue Regierung könnte etwa die Kompensation für öffentliche Medien im Haushalt kürzen und sagen: „Seht her, die öffentlichen Medien haben kein Geld, sie müssen reformiert werden, weil sie nicht zurechtkommen.“ Das, so Czabański, wäre eine Rechtsverdrehung, aber es wäre, auch wegen der gesellschaftlichen Wahrnehmung, machbarer als der Weg über Beschlüsse. 

Gefragt danach, ob es um die Eliminierung von Pluralismus in Polen gehe, weist Czabański darauf hin, dass die stärksten Medien in Polen, aufgrund der Politik nach der Wende, heute allesamt auf ausländischem Kapital basieren. Ausländisches Kapital sei ohne Einschränkungen auf den Markt gelassen worden, in der Hoffnung, dass es unsere Medien professionalisieren und Pluralismus sowie Meinungsfreiheit garantieren würde. Das Ergebnis sei jedoch eine Mischung aus den Mängeln des ausländischen Kapitals, den Mängeln des Postkommunismus und allem dessen, was die (linksliberale) „Gazeta Wyborcza“ repräsentiert, die aus dem „Tygodnik Mazowsze“ hervorgegangen ist. Auch Geheimdienste hätten wichtige Konzessionen erhalten. 

Wenn die neue Koalition nun die Kontrolle über das polnische Fernsehen und Radio übernehme, werd der Draht von Wiertnicza nach Woronicza wieder angeschlossen und überall werde dieselbe Botschaft verbreitet, während alles, was über die links-liberale Erzählung hinausgeht, an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gedrängt werde. Diese Erzählung werde durch Medien mit ausländischem Kapital serviert, also Medien, die unsere Interessen nur dann vertreten, wenn sie nicht im Widerspruch zu den Interessen des Eigentümers stehen. Generell stimme er der These zu, dass das öffentliche Fernsehen die Meinung der ganzen Gesellschaft widerspiegeln sollte. Im Ernstfall sei Pluralismus in der Gesellschaft generell als der Pluralismus innerhalb einer Institution. “Es sollte uns allen darum gehen, dass der gesamte Medienmarkt pluralistisch ist. Dass nicht ein Teil der Gesellschaft von Medien ausgeschlossen wird. In unserer polnischen Situation müssen die öffentlichen Medien daher die große Mission der Pluralisierung des Marktes übernehmen, indem sie jene Erzählungen aufwerten, die systematisch ausgeschlossen werden. Man kann doch nicht all jene vom Medienmarkt eliminieren, die die siegreiche Kraft in den letzten Wahlen unterstützt haben”, so Krzysztof Czabański im Gespräch mit “Sieci”. 

Gazeta Wyborcza: Der Name TVP könnte verschwinden

In einem Artikel zum selben Thema spekuliert die linksliberale Gazeta Wyborcza über einen möglichen Namenswechsel in Bezug auf das öffentliche Fernsehen. „Heute hat das Schild TVP und dieser Name einen schlechten Ruf. Eine der Optionen, die in Betracht gezogen wird, ist die Umbenennung dieser Institution“, zitiert das Blatt den Politiker der Bürgerplattform Borys Budka. „Nach den letzten acht Jahren wird dieses Schild absolut mit dem Bösen und etwas, das nichts mit Journalismus zu tun hat, in Verbindung gebracht“, so der Politiker.

Ähnlich denke man auch in der PSL: „Öffentliches Fernsehen wird von den Polen benötigt. Ich weiß nicht, ob unter demselben Namen, denn dieser ist ziemlich stark durch Propagandisten beschmutzt, die sich als Journalisten ausgeben. Öffentliche Medien benötigen definitiv eine totale Veränderung, sogar die Option Null.“

Laut CBOS sei TVP der am wenigsten glaubwürdige Fernsehsender. Nur 26 Prozent würden die Informations- und Publizistikprogramme von TVP als glaubwürdig betrachten, während ganze 47 Prozent sie als nicht vertrauenswürdig ansehen, so Gazeta Wyborcza. 

Autor: Adam de Nisau