Deutsche Redaktion

"Startet Polen erneut eine Großfahndung nach russischen Agenten?"

10.05.2024 17:41
Nach der Flucht des polnischen Richters Tomasz Szmydt nach Belarus kehrt die Idee einer Sonderkommission zur Untersuchung der russischen Einflussnahme auf die polnische Politik wie ein Bumerang zurück. Premierminister Tusk erhebt derweil schon jetzt ernste Anschuldigungen gegen seine politischen Konkurrenten. Und: Putin veranstaltet wieder mal eine Parade der Heuchelei und des Unsinns.
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zdjęcie ilustracyjneżródło: pixabay.com

Dziennik/Gazeta Prawna: Startet Polen erneut eine Großfahndung nach russischen Agenten?

Nach der Flucht des polnischen Richters Tomasz Szmydt nach Belarus kehrt die Idee einer Sonderkommission zur Untersuchung der russischen Einflussnahme auf die polnische Politik wie ein Bumerang zurück, schreibt das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna (DGP). Wie das Blatt erinnert, stamme die Idee von Premierminister Donald Tusk. Nicht allen Koalitionspartnern gefalle jedoch, dass der Sejm erneut eine groß angelegte Suche nach russischen Agenten durchführen könnte.

Die Suche nach einem angeblichen russischen Eingriff in die nationale Politik sei in Polen nichts Neues, so die Zeitung. Schon Mitte des vergangenen Jahres habe die vorherige Regierung der Recht und Gerechtigkeit (PiS) eine ähnliche Sonderkommission eingerichtet. Die damalige Opposition habe jedoch kritisiert, die Kommission sei ein Instrument der Behörden gewesen, um ihren Anführer Donald Tusk zu bekämpfen. Unmittelbar nach der Bildung der neuen Regierung seien alle Mitglieder dieser Kommission entlassen worden. Mit der Flucht des polnischen Richters nach Belarus ändere sich jedoch alles wieder. Jetzt habe sogar Ministerpräsident Tusk erkannt, dass die Angelegenheit einer angemessenen Untersuchung bedürfe.

Die Abgeordneten der Opposition, lesen wir weiter, würden heute erstaunt die Augen aufreißen. Sie fordern, dass die Regierung, wenn sie den russischen Einfluss wirklich bekämpfen wolle, die alte Kommission wieder einsetzen sollte. Die Mitglieder von Tusks Partei hätten hingegen eine andere Meinung zu seinem Vorschlag. Wenn klar sei, dass Russen und Belarussen versuchen, in die polnische Politik einzugreifen, müsse man so schnell wie möglich mit der Untersuchung beginnen.

Die Koalitionspartner von Tusks Partei zeigten jedoch nicht den gleichen Enthusiasmus für die Reaktivierung der Kommission. Die Bauernpartei PSL sei der Ansicht, dass die Geheimdienste und Spezialisten für die Verfolgung von Spionen zuständig sein sollten. Notwendig seien Experten und keine Show vor Kameras. Je leiser die Ermittlungen, desto besser, so die Meinung der PSL. Die Linke hingegen sei einem parlamentarischen Ausschuss gegenüber viel offener, der untersuchen könne, wie russische und belarussische Dienste sich angeblich dreist in die polnische Politik einmischen. Jede Person, die aufgrund ihrer Arbeit im Verdacht stehe, müsse jedoch die Möglichkeit haben, sich vor Gericht verteidigen zu können, schreibt Dziennik/Gazeta Prawna.

Rzeczpospolita: Ernste Anschuldigungen ohne Konsequenzen

„Bezahlte Verräter, Vasallen Russlands“, so beschrieb Donald Tusk die Opposition am Donnerstag im Sejm, schreibt Michał Szułdrzyński für die Rzeczpospolita. Tusk habe die letzten Jahre skizziert und erklärt, die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sei durch die Zusammenarbeit mit Russland in der sogenannten Abhöraffäre vor neun Jahren an die Macht gekommen. Er beschuldigte auch die Geheimdienste seiner Vorgänger, Ermittlungen aus politischen Gründen verdreht zu haben, als Spuren russischer Interessen in Polen aufgedeckt wurden. Schließlich kündigte Tusk an, eine verfassungsgemäße Kommission einzurichten, um den russischen und belarussischen Einfluss auf die Regierungen der Vereinigten Rechten ohne Medienzirkus zu untersuchen.

Wie wir lesen, geschah dies alles im Sejm während der Debatte über den Antrag der Opposition, die Umweltministerin Joanna Hennig-Kloska abzuberufen. Dabei ging es nicht um den skandalösen Fall des polnischen Richters, der verdächtigt wird, für die Geheimdienste des Ostens zu spionieren. Es war auch keine Debatte über die russische Einflussnahme. Tusk habe lediglich die Gelegenheit genutzt, um die schwersten Vorwürfe zu erheben, schreibt Szułdrzyński.

Der Autor sieht hier eine Ausnahmesituation mit zwei möglichen Konsequenzen. Entweder, man nimmt die Worte des Premierministers ernst, und die Geheimdienste müssen in den kommenden Tagen die Entscheidungsträger der letzten Jahre verhaften, ihre Verbindungen zu Russland beweisen und Beweise für Hochverrat vorlegen. Schließlich würde sich Tusk nicht auf Geheimdienstberichte stützen, um die Partei, die acht Jahre lang an der Macht war, ohne unwiderlegbare Beweise als „russische Lakaien“ zu bezeichnen.

Sollte dies jedoch nicht geschehen, bleibe nur die zweite Möglichkeit: Ein Achselzucken und die Erkenntnis, dass der Vorwurf, russischen Interessen zu dienen, in Polen bereits eine politische Tradition ist. Nachdem die PiS Tusk beschuldigte, sowohl Berlin als auch Moskau zu dienen, könne Tusk nun behaupten, dass die letzten acht Jahre von russischen Interessen und Einfluss geprägt waren. Anschließend würden alle nach Hause gehen und Abendessen.

Im letzteren Fall könne man Polen dann jedoch nicht mehr ernst nehmen. Unabhängig vom Ergebnis sei die Situation dramatisch, schreibt Michał Szułdrzyński abschließend in der Rzeczpospolita.

Rzeczpospolita: Keine Siegesparade, sondern eine Parade der Heuchelei und des Unsinns

Die Feierlichkeiten zum Siegestag am 9. Mai in Moskau seien seit langem ein sorgfältig inszeniertes Kabarett des Kremls. Von den Russen werde erwartet, dass sie sich amüsieren, sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen und nicht an die Zukunft denken, schreibt Ruslan Schoschyn für Rzeczpospolita.

Wladimir Putin, der den größten bewaffneten Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst habe, habe am 9. Mai in Moskau erklärt, Russland strebe nach „Freundschaft mit allen“. Er verwies auf Werte wie „Freiheit und Gerechtigkeit“ und sprach von der Notwendigkeit, „das Völkerrecht zu achten“. Wie jedes Jahr habe der Kreml-Chef die Veranstaltung als Plattform genutzt, um alte Propaganda-Thesen zu wiederholen. Laut Schoschyn habe sich die Welt daran gewöhnt, und die Russen offenbar auch.

Der Autor fragt, wie alt ein Veteran des Zweiten Weltkriegs sein müsse, um am 79. Jahrestag des Kriegsendes auf der Tribüne auf dem Roten Platz neben Putin zu sitzen. Schon vor Jahren, erinnert Schoschyn, hätten unabhängige russische Journalisten von Fällen berichtet, in denen die Veteranen in mit Orden geschmückten Uniformen oftmals während des Krieges noch Kinder gewesen oder sogar erst nach Kriegsende geboren worden seien. Was zähle, sei das Bild im Propaganda-Fernsehen der Regierung. Der Durchschnittsrusse wisse jedoch genau, dass die echten Veteranen schon während der kommunistischen Ära kaum Unterstützung vom Staat erhalten hätten.

Viele von ihnen seien kurz nach ihrer Rückkehr auf der Straße gestorben. Die Verstümmelten seien vom Staat vergessen worden. Der Gipfel der Heuchelei dieser Propaganda, so der Autor, sei im Fernsehen zu sehen, wenn Politiker den Veteranen Autos schenken. Als ob der Staat sich erst mehr als sieben Jahrzehnte nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg an ihre Existenz erinnern würde. Moskau biete ihnen eine Fahrt an, obwohl sie oft nicht einmal mehr gehen können.

Schoschyn schreibt weiter: Warum fragen sich Russen, die sich am 9. Mai an den Familientisch setzen, nicht, warum die Deutschen, die den Krieg verloren haben, heute das reichste Land Europas sind? Oder warum sie seit ihrem siegreichen Einmarsch in Berlin oft nicht einmal eine Toilette zu Hause haben? Diejenigen, die solche Fragen laut gestellt hätten, würden heute in Gulags sitzen oder seien tot. Boris Nemzow und Alexej Nawalny hätten ihren Landsleuten jahrelang erklärt, wie sie betrogen und beraubt werden. Wie viele Russen hätten das verstanden, fragt der Autor.

Der durchschnittliche Russe erfahre heute aus dem Fernsehen nur, dass sein großartiges und mächtiges Land gerade dabei sei, „von den Knien aufzuerstehen“. Deshalb sei es seit mehr als zwei Jahren im Krieg mit der Ukraine. Die Propagandisten des Kremls würden daran erinnern, dass Kiew „von vom Westen kontrollierten Nazis regiert“ werde. Die Existenz Russlands stünde auf dem Spiel. Deshalb müssten sich alle „für das Wohl des Vaterlandes“ mobilisieren. Mehr Raketen müssten auf die Ukraine fallen. Auf die Ukrainer, ohne die die Sowjetunion keine Chance gehabt hätte, Hitlers Armee zu besiegen, erinnert Ruslan Schoschyn in der Rzeczpospolita. 

Autor: Piotr Siemiński