Deutsche Redaktion

"Präsidentschaftswahlen 2025 - welche Vision braucht Polen heute?"

30.05.2025 13:21
Polen sei vor der Stichwahl buchstäblich halbiert: Die eine Hälfte fürchte sich mehr vor der Übergabe der Macht an eine politische Kraft, die andere vor einer Lähmung des Staates. Und die Jungen müssten zwischen zwei Kandidaten wählen, die sie in der ersten Runde verworfen hätten, analysiert der Chefredakteur der konservativ-liberalen Rzeczpospolita. Und: Haben sich die Liberalen mit dem Frontalangriff auf Nawrocki und seine Vergangenheit ins eigene Knie geschossen - wieder einmal? Mehr dazu in der Presseschau.
W ostatnich sondażach widać, że starcie Trzaskowskiego z Nawrockim jest wyrównane.
W ostatnich sondażach widać, że starcie Trzaskowskiego z Nawrockim jest wyrównane.Julian Sojka/East News, Anita Walczewska/East News

Rzeczpospolita: Präsidentschaftswahlen 2025 - welche Vision braucht Polen heute?

Die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen ist ein entscheidender Moment. Polen braucht eine neue Geschichte, um die Generationen zu vereinen und die weitere Entwicklung zu sichern. Die Zukunft hängt von uns allen ab, schreibt im Leitartikel der konservativ-liberalen Rzeczpospolita der Chefredakteur des Blattes Michał Szułdrzyński. 

Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit vor 36 Jahren, so der Autor, habe Polen - trotz wechselnder Regierungen und politischer Spannungen - eine beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben. Der EU- und NATO-Beitritt habe das Land dauerhaft an den Westen gebunden, während Fleiß, Unternehmergeist und Innovation der Polen zu Rekordwohlstand geführt hätten. Gleichzeitig zahle der Staat Sozialleistungen in Rekordhöhe, besonders für Kinder - sowohl als soziale Unterstützung als auch als Investition in künftige Generationen.

Dennoch stehe Polen vor gewaltigen Herausforderungen: Der Krieg vor der Ostgrenze erfordere massive Rüstungsausgaben, die nur eine stark wachsende Wirtschaft finanzieren könne. Die demografische und klimatische Krise sowie die KI-Revolution dürften nicht verschlafen werden. Zudem seien die USA weniger Europa-orientiert, was neue diplomatische Anstrengungen erfordere.

Vor diesem Hintergrund, so Szułdrzyński, stünden die Wähler nun vor zwei Visionen Polens. Jede von ihnen mit eigenen Chancen, aber auch eigenen Risiken. Das Lager der heutigen Opposition - also die nationalkonservative PiS und ihre Verbündeten - warne eindringlich vor der Übergabe der gesamten Macht in die Hände einer einzigen politischen Kraft. Sie befürchte eine "Schließung des Systems" (domknięcie systemu) im Falle eines Sieges von Rafał Trzaskowski. Dies sei  "kein belangloses Argument". Gleichzeitig komme diese Warnung ironischerweise ausgerechnet von dem politischen Milieu, das acht Jahre lang sowohl den Präsidenten als auch den Sejm kontrollierte - also praktisch den gesamten Staat.

Das heute regierende Lager warne umgekehrt vor einer Lähmung des Staates bei einem Sieg Karol Nawrockis. Nawrocki selbst habe angekündigt, dass er im Falle seines Wahlsiegs den Sturz der Regierung Donald Tusks herbeiführen und vorgezogene Wahlen anstreben wolle. Das ultimative Ziel sei die Rückkehr der PiS an die Macht, die dann sowohl den Präsidenten als auch die Parlamentsmehrheit hätte und "auf ihre Weise das System schließen" könnte.

Polen, so der Autor, sei heute also buchstäblich halbiert: Die eine Hälfte fürchte sich mehr vor dem ersten Szenario, die andere vor der Alternative. Unabhängig vom Wahlausgang sei absehbar, dass der Vorsprung des Siegers so gering ausfallen könnte, dass man "jenes Polen respektieren müsse, das am Sonntag verliert".

Sowohl Nawrocki als auch Trzaskowski, fährt Szułdrzyński fort, verkörperten einen politischen Streit, der sich bereits seit zwei Jahrzehnten hinziehe. Doch dieser Konflikt erfasse nicht die gesamte gesellschaftliche Realität - die Jungen lehnten ihn ab.

Die Zahlen seien eindeutig: Hätte allein die Generation unter 30 Jahren entschieden - bei der am 18. Mai eine Rekordwahlbeteiligung von über 72 Prozent verzeichnet wurde - dann würden in der Stichwahl der rechtsliberale Sławomir Mentzen und der linke Adrian Zandberg gegeneinander antreten. Auf Trzaskowski entfielen in der ersten Runde nur 13 Prozent der jungen Stimmen, auf Nawrocki sogar nur 11 Prozent.

Am Sonntag müssten die jungen Polen also zwischen Kandidaten wählen, die sie in der ersten Runde verworfen hätten. Daher sei es die nächste große Herausforderung für den neuen Präsidenten - wer auch immer es werden möge -, die polnische Politik und Polen selbst so zu verändern, "dass sich diese jungen Menschen hier zuhause fühlen", so Michał Szułdrzyński in der Rzeczpospolita. 

Dziennik/Gazeta Prawna: "Die liberalen Eliten sind immer noch dumm"

Der Wirtschaftswissenschaftler und Publizist Marcin Kędzierski übt in der Wochenendausgabe des Wirtschaftsblatts Dziennik/Gazeta Prawna harsche Kritik an der Wahltaktik des liberalen Lagers vor der Stichwahl. Der Versuch, Nawrocki schlecht zu mache, werde mit großer Wahrscheinlichkeit nach hinten losgehen, so Kędzierski. 

Der hegelsche Zeitgeist, so der Autor, weise im Westen eindeutig nach rechts. Gesellschaften würden zunehmend tribal und individualistisch, was sich in der Ablehnung von Elitarismus und Meritokratie äußere - einschließlich der Dominanz von Experten- und wissenschaftlichem Diskurs. Dies führe zur Kontestierung liberaler Institutionen, einer Rückkehr der "Kultur der Stärke" und zur Akzeptanz von Gewalt im öffentlichen Raum.

Der Autor bezeichnet diesen Prozess als "Maskulinisierung" der Politik: Die Ära von Sensibilität, Inklusivität, Gleichheit und Dialog gehöre der Vergangenheit an. Ein sozio-ökonomischer Wandel, den Robert D. Kaplan in seinem Buch “Politik der Krieger” von 2001 vorweggenommen habe.

Geht es nach Kędzierski, sei die neue Politik - deren "ausdrucksstärkste Emanation" Donald Trump sei - nicht post-, sondern prächchristlich orientiert. Während die liberale Demokratie trotz ihrer Säkularität in der christlichen Zivilisation und deren Sorge um den Schutz der Schwächeren verwurzelt sei, orientiere sich die neue Politik an "paganen Werten" wie List, Verrat und Lüge. Einer der Gründe für diese Wende sei das Versagen der liberalen Demokratie, den Kapitalismus zu zähmen. Stattdessen habe sie Konzernen den Weg zur Macht geebnet. Viele Wähler, die sich als Verlierer des globalen Wirtschaftssystems sähen, würden nun hoffnungsvoll auf die "pagane Alternative" blicken.

Für Polen identifiziert Kędzierski zwei Gruppen, die besondere Feindseligkeit oder sogar Hass auslösten: Ukrainer und die mit der III. Republik assoziierten liberalen Eliten, verkörpert durch die linksliberale Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Obwohl deren Position heute unvergleichlich schwächer sei, könne sie immer noch negative Assoziationen wecken - was etwa der Journalist Krzysztof Stanowski in seinem Youtube-Kanal "gnadenlos monetarisiere".

Die Feindseligkeit gegenüber diesen Gruppen erklärt Kędzierski durch das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn, speziell durch die Figur des älteren Bruders. Polen, so der Autor, würden sich selbst eben eher mit diesem älterem Bruder identifizieren, frei nach dem Motto: "Obwohl wir gut zu anderen sind, schätzen sie das nicht, sondern zahlen uns mit Undankbarkeit zurück." Man opfere sich auf und erwarte ständig Anerkennung der eigenen Verdienste - die jedoch ausbleibe.

Diese gesellschaftliche Sensibilität erkläre die Dauerhaftigkeit des Mythos vom "Messias der Völker" und den Skeptizismus gegenüber ukrainischen Flüchtlingen. Polen, so die Erzählung, hätten spontan ihre Häuser geöffnet, würden aber nun nicht nur finanziell ausgenutzt, sondern auch gedemütigt - etwa durch die separate Platzierung des polnischen Premiers in einem anderen Waggon als westliche Führer oder die Verweigerung von Punkten beim Eurovision-Songcontest.

Daher habe laut Kędzierski auch der Kandidat die größeren Siegeschancen, der die Polen überzeuge, dass sie sich zu Recht ungerecht behandelt fühlten - und gleichzeitig verspreche, dafür zu sorgen, dass andere ihnen künftig Respekt erweisen.

Der Wahlkampf rund um die Entziehung von "Privilegien" für Ukrainer oder die Durchsetzung von Exhumierungen in Wolhynien sei ein Versuch gewesen, diese Bedingungen zu erfüllen. Auch der Wahlerfolg von Grzegorz Braun lasse sich dadurch erklären, da er die größte Feindseligkeit gegenüber den östlichen Nachbarn demonstriert habe.

Für die Stichwahl diagnostiziert Kędzierski, dass Trzaskowskis Team den "Hass auf klassistischen, liberalen Paternalismus" wiederbelebt habe. Menschen mit Transformationserfahrung erinnerten sich an die Rolle der Eliten, die immer dazu gemahnt hätten, den Gürtel enger zu schnallen und generell belehrten, wie man zu leben habe.

Das Leben sei indes schwierig und voller Grautöne. Viele Menschen, besonders ältere, seien überzeugt, dass sie ohne "Ellbogen-Einsatz" keinen finanziellen und sozialen Aufstieg erlebt hätten. Diese Fähigkeit sei eine Quelle des polnischen Wirtschaftswunders. Man sei stolz auf die Errungenschaften, und niemand solle einem vorhalten, wie man dazu gekommen sei - schon gar nicht die liberalen Eliten, die jahrelang das Volk verachtet hätten.

Polen, die einen enormen materiellen Sprung gemacht hätten, fährt der Autor fort  - insbesondere Provinzbewohner - wollten als vollwertige EU-Bürger behandelt werden. Die Koalition vom 15. Oktober habe Erfolg gehabt, weil sie den Paternalismus aufgegeben und den Weg der Normalität gewählt habe.

Selbst wenn also in Nawrockis Vergangenheit "dunkle Karten" lägen, könne das Infragestellen der Aufstiegsgeschichte eines "Jungen aus dem Plattenbau", der IPN-Chef wurde und nun für das Präsidentenamt kandidiere, diese Wähler antagonisieren. Die Botschaft, dass auf Polen die moralische Pflicht ruhe, gegen einen Mann mit Verbindungen zur Gangsterwelt zu stimmen, werde mit hoher Wahrscheinlichkeit den gegenteiligen Effekt haben.

Nach Donald Tusks Interview bei Polsat News und den Kommentaren von Trzaskowski-Anhängern gewinne er die Überzeugung, dass am 1. Juni Nawrockis Sieg zu erwarten sei. Nicht nur wegen des Zeitgeists oder seiner anti-ukrainischen Haltung, sondern weil Polen heute jemanden wollten, der ihren Aspirationen entspreche, ohne ihnen zu sagen, was sie denken oder wie sie wählen sollen.

Und falls der KO-Kandidat verlieren sollte, wäre dies ein weiterer Beweis für die These des verstorbenen Professors Marcin Król, der die Rolle der liberalen Eliten in der Transformationszeit mit den Worten zusammenfasste: "Wir waren dumm." In der Dekade seit dieser Aussage habe sich offenbar wenig geändert, so Marcin Kędzierski in Dziennik/Gazeta Prawna.

Autor: Adam de Nisau


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