Gazeta Wyborcza: Der „Algorithmus des Sieges“ verändert die Spielregeln
Die Präsidentschaftswahl 2025 sei die erste in der Geschichte Polens gewesen, die primär im Internet stattgefunden habe, konstatiert die linksliberale Gazeta Wyborcza unter Berufung auf den Kommunikationsexperten Michał Fedorowicz. Klassische Medien hätten nur noch eine begleitende Rolle gespielt, während sich der eigentliche Wahlkampf auf Plattformen wie YouTube, TikTok und Facebook abgespielt habe.
Als eine Schlüsselfigur dieser Entwicklung gilt laut Fedorowicz der Journalist und Medienunternehmer Krzysztof Stanowski mit seinem Kanał Zero. Sein Einfluss auf die jüngste Wahlkampagne lasse sich mit jenem der Gazeta Wyborcza im Jahr 1989 vergleichen – beide hätten jeweils ein neues, anti-systemisches Medienmodell etabliert. Das neue Informationsumfeld zeichne sich durch partizipative Kommunikation, emotionale Authentizität und algorithmisch verstärkte Segmentierung aus. Zuschauer und Nutzer wollten heute keine moralischen Instanzen mehr, sondern ein unmittelbares Erleben politischer Auseinandersetzung, so Fedorowicz.
To była pierwsza kampania w historii wyborów w Polsce, która toczyła się przede wszystkim w internecie - tłumaczy Michał Fedorowicz, ekspert komunikacji internetowej. - Tradycyjne media jedynie asystowały. @boleslawbreczko.bsky.social #wyborcza wyborcza.biz/biznes/7,177...
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— Gazeta Wyborcza (@wyborcza.pl) June 4, 2025 at 9:27 AM
Die Analyse des Analysekollektivs Res Futura, dessen Leiter Fedorowicz ist, hebt besonders die digitale Kampagne des rechtskonservativen Kandidaten Karol Nawrocki hervor. Dessen Team habe ein vollständig digitales Kommunikationsökosystem geschaffen, das durch algorithmische Kontrolle, gezielte Emotionssteuerung und vollständige Segmentierung der Wählerschaft geprägt gewesen sei. Inhaltliche Programme oder sachliche Argumente seien dabei nebensächlich gewesen – im Mittelpunkt habe die Herstellung einer stark polarisierten Welt gestanden, in der „wir“ (Volk, Provinz, Familie) der bedrohlichen „Elite“ (EU, Medien, Städte) gegenübergestanden hätten.
Res Futura beschreibt diese Strategie als „totalen Informationskrieg“, den die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bewusst geführt habe. Sie habe sich durch die Nutzung nicht direkt verbundener Konten, differenzierte Kanalstrategien (TikTok für kurze Affekte, Facebook für lange Erzählungen) und die gezielte Emotionalisierung des politischen Diskurses ausgezeichnet. In dieser Umgebung sei die Kampagne des liberalen Gegenspielers Rafał Trzaskowski wirkungslos geblieben – sie habe auf klassische Medienformate und rationale Argumente gesetzt, sei jedoch in der „reduzierten Informationsrealität“ nicht durchgedrungen.
"Was einst die Stärke des Liberalismus ausmachte - Offenheit, Komplexität, Universalismus - wurde heute zu seiner Barriere im reduzierten Informationsraum", heißt es in der Analyse. "Das rechte Lager hat nicht nur das Thema monopolisiert, sondern auch die gesamte Architektur der Aufmerksamkeit und politischen Identität im digitalen Zeitalter übernommen. Das ist kein Sieg für eine Kampagne - es ist eine Neukonfiguration der Spielregeln, in der der Liberalismus in eine defensive Position gedrängt wurde", so die Gazeta Wyborcza.
Gazeta Wyborcza: TikTok begünstigt Inhalte der radikalen Rechten im polnischen Präsidentschaftswahlkampf
Nur ein Beispiel für die neue mediale Realität: Der Algorithmus von TikTok habe bei der letzten Wahlkampagne auffallend häufig Inhalte der radikalen Rechten bevorzugt, schreibt ebenfalls die Gazeta Wyborcza unter Berufung auf einen Bericht der internationalen NGO Global Witness.
Wie das Blatt berichtet, habe Global Witness in einem Experiment mit drei neu eingerichteten, politisch neutralen Konten analysiert, welche Inhalte TikTok innerhalb von jeweils zehn Minuten anzeigte. Das Ergebnis: Nutzer erhielten über fünfmal mehr Beiträge zugunsten des nationalkonservativen Kandidaten Karol Nawrocki als für dessen zentristischen Rivalen Rafał Trzaskowski, der in der ersten Wahlrunde die meisten Stimmen erhalten hatte. Auf 48 identifizierte Beiträge seien 21 zugunsten Nawrockis und nur vier zugunsten Trzaskowskis entfallen. Zwei Drittel aller politisch einzuordnenden Inhalte hätten Positionen der radikalen oder nationalistischen Rechten verbreitet, nur ein Drittel stammte aus dem Mitte-links-Spektrum, so die NGO.
"Wyniki były uderzające. Dla trzech kont, przeglądanych po 10 minut każde, TikTok wyświetlił ponad pięć razy więcej treści wspierających Karola Nawrockiego niż Rafała Trzaskowskiego" - pisze organizacja Global Witness. #Wyborcza #wybory #Trzaskowski #Nawrocki wyborcza.biz/biznes/7,177...
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— Gazeta Wyborcza (@wyborcza.pl) June 3, 2025 at 4:31 PM
Ein besonders weit verbreitetes Video habe Nawrocki beim Fußballspiel mit Kindern gezeigt – ein Clip, der auf allen drei Testkonten erschienen sei und laut Bericht über 2,7 Millionen Aufrufe erzielt habe. Zwei weitere Beiträge mit antisemitischen Inhalten seien ebenfalls registriert und an TikTok gemeldet worden, ohne dass es bislang zu Konsequenzen gekommen sei.
Fazit: Trotz größerer Reichweite und mehr Likes auf dem offiziellen TikTok-Profil von Trzaskowski habe Nawrockis Lager vom Aufmerksamkeitsmechanismus der Plattform profitiert, resümiert Global Witness. TikToks Algorithmus neige offenbar dazu, provokative oder polarisierende Inhalte zu bevorzugen – ein Muster, das auch bei Präsidentschaftswahlen in Rumänien und zuvor in Deutschland beobachtet worden sei.
TikTok selbst habe auf Anfrage die Untersuchung als „wissenschaftlich unzureichend“ und „irreführend“ zurückgewiesen. Global Witness betone allerdings, dass keine vorsätzliche politische Einflussnahme durch TikTok unterstellt werde – das Problem liege eher in der inhärenten Funktionsweise von Empfehlungsalgorithmen, „die bestimmte politische Narrative überproportional verstärken können und damit ein Risiko für die demokratische Debattenkultur darstellen“.
Dziennik/Gazeta Prawna: Polen und Europa müssen militärische Abschreckung dringend neu definieren
Die kommenden zwei bis drei Jahre seien aus sicherheitspolitischer Sicht entscheidend für Polen und die östliche Flanke der NATO, schreiben Marek Budzisz (Strategy & Future) und Andrew A. Michta (Atlantic Council) in einer sicherheitspolitischen Analyse für das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna. In diesem Zeitraum müsse der polnische Staat strategische Entscheidungen treffen und den schwierigen Prozess beginnen, eigene Abschreckungskapazitäten gegen Russland innerhalb des Bündnissystems aufzubauen.
Da ein NATO-Beitritt der Ukraine auf absehbare Zeit nicht zu erwarten sei, gehe es zudem um den Aufbau eines regionalen Sicherheitssystems, das Frieden östlich der NATO-Grenzen gewährleisten könne – mit besonderem Fokus auf den sogenannten Nordostkorridor, der Skandinavien, das Baltikum, Finnland und Polen verbinde.
Die These, dass die Vereinigten Staaten Europa aufgeben würden, lesen wir weiter, sei ein „nicht gerechtfertigtes Vereinfachung“ oder gar „Missbrauch“. Zwar verlagere sich der strategische Fokus Washingtons zunehmend in den indo-pazifischen Raum, doch blieben der hohe Norden und die Ostseeregion auch künftig Teil der amerikanischen Sicherheitsarchitektur. Der Wandel innerhalb der NATO müsse daher nicht nur als „burden sharing“, sondern als „burden shifting“ – also als schrittweise Übernahme konventioneller militärischer Fähigkeiten durch europäische Staaten – verstanden werden. Voraussetzung dafür sei ein geordneter Prozess in enger Abstimmung mit den USA.
Europa dürfe dabei nicht den Fehler machen, sich auf die Suche nach einer nuklearen Abschreckung in Eigenregie zu begeben, da dies nur den falschen strategischen Eindruck einer Abkopplung von Washington erwecken würde, warnen die Autoren. Der US-Atomschirm und sogenannte high-end enablers blieben unverzichtbar.
Zugleich müsse man davon ausgehen, dass Russland auf Jahre oder Jahrzehnte hinaus ein aggressiver Akteur bleibe – auch nach dem Ende des Kriegs in der Ukraine. Moskaus Ziel sei eine systematische Aggression unterhalb der Kriegsschwelle. Die angekündigte Aufstockung der russischen Streitkräfte auf 1,5 Millionen Soldaten und die Kriegswirtschaft dienten diesem Zweck. Und der heutige Kräftevergleich zwischen der europäischen NATO und Russland zeige eine wachsende strategische Asymmetrie – leider zugunsten Moskaus.
Besorgniserregend sei etwa, dass westeuropäische Staaten, wie die Debatte um eine mögliche Entsendung eines Stabilisierungs-Kontingents in die Ukraine gezeigt habe, derzeit realistisch nur etwa 25.000 Soldaten mobilisieren könnten – ein Achtel des geschätzten Bedarfs. Die Ukraine müsse daher Teil eines regionalen Sicherheitssystems werden, um Russland künftig eigenständig abschrecken zu können. Je weniger sie dazu in der Lage sei, desto größer werde der Aufwand für Polen.
Die Autoren betonen zudem, dass der Krieg in der Ukraine entscheidende militärische Lehren biete. Er sei ein „drohnenzentrierter“ und zunehmend „datenzentrierter“ Konflikt, in dem technologische Überlegenheit, industrielle Anpassungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Schaffung eines gemeinsamen Lagebilds entscheidend seien.
Wenn die USA sich künftig stärker auf China konzentrierten, werde Europa mehr sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen müssen – auch, um die transatlantischen Beziehungen aufrechtzuerhalten. Der gleichzeitige Versuch, sicherheitspolitisch an den USA und wirtschaftlich an China zu binden, wie er in Westeuropa erkennbar sei, sei strategisch nicht haltbar.
“Angesichts der Tatsache, dass wir nun nur zwei bis drei Jahre hätten, um die Fähigkeit der NATO-Staaten zur eigenständigen Abschreckung Russlands wiederherzustellen, können wir es uns nicht leisten, endlose Diskussionen über die gewünschte Form der europäischen Politik zu führen”, warnen Budzisz und Michta. Stattdessen brauche es rasches Handeln im Rahmen der „Koalition der Willigen“, bestehend aus Polen, den skandinavischen Ländern, dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden, den baltischen Staaten sowie perspektivisch Rumänien und der Türkei. Zu den wichtigsten Zielen dieser Kooperation gehörten:
– höhere militärische Mobilität,
– Vorverlagerung von Material und Munition,
– gemeinsame Entwicklung einer Doktrin für multidimensionale Kriegsführung,
– Investitionen in Führungs-, Aufklärungs- und Zielsysteme (C2/ISR),
– Ausbau von Fähigkeiten für Schläge mittlerer und großer Reichweite.
Der Westen habe keine Zeit zu verlieren, so Marek Budzisz und Andrew Michta in ihrem Artikel für Dziennik/Gazeta Prawna.
Autor: Adam de Nisau