Deutsche Redaktion

US-Sicherheitsstrategie: "Eine Chance, aber..."

09.12.2025 12:50
Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA sorgt in Polen weiterhin für hitzige Debatten. Während einige Kommentatoren eindringlich vor der bevorstehenden „Scheidung“ Amerikas von Europa warnen, sehen andere darin eine Chance für die polnische Außenpolitik. Gleichzeitig liegt für viele weiterhin die Frage auf dem Tisch, wieso Polen bei den Gesprächen über die Ukraine nicht mit am Verhandlungstisch sitzt. Und: Wie verwundbar ist die NATO wirklich gegenüber Russland? Mehr dazu in der Presseschau.
US-Prsident Donald Trump berreicht dem Country-Musiker George Strait, der 2025 vom Kennedy Center geehrt wird, whrend einer Zeremonie im Oval Office des Weien Hauses in Washington, DC, USA, am 6. Dezember 2025 eine Medaille. Zu den Preistrgern des Kennedy Centers 2025 gehren der Country-Musiker George Strait, der Schauspieler Sylvester Stallo
US-Präsident Donald Trump überreicht dem Country-Musiker George Strait, der 2025 vom Kennedy Center geehrt wird, während einer Zeremonie im Oval Office des Weißen Hauses in Washington, DC, USA, am 6. Dezember 2025 eine Medaille. Zu den Preisträgern des Kennedy Centers 2025 gehören der Country-Musiker George Strait, der Schauspieler Sylvester StalloEPA/BONNIE CASH / POOL

RZECZPOSPOLITA: Polen braucht eigene Nationale Sicherheitsstrategie

Amerika wolle sich von der Europäischen Union trennen. Zu diesem Schluss kommt auch Bogusław Chrabota in seiner Analyse für die konservativ-liberale Rzeczpospolita. Die Welt solle in Einflusssphären aufgeteilt werden, und Washington träume von einer Rückkehr zur strategischen Stabilität in den Beziehungen zu Russland.

Die neue Sicherheitsstrategie sei nicht aus dem Nichts entstanden, schreibt der Autor. Im globalen Spiel um Einflüsse würden die USA langsam verlieren – das sei „der wahre Grund für die triumphalistische und arrogante Rhetorik Trumps“. Die Welt habe sich von der amerikanischen Hegemonie verabschiedet, sie sei bipolar geworden. Falls es tatsächlich zu einer strategischen Zusammenarbeit zwischen Peking, Moskau und Delhi kommen sollte, werde die euro-atlantische Sphäre „in ernsthaften Schwierigkeiten“ stecken.



Der Autor zitiert zustimmend den Tweet von Premierminister Donald Tusk: „Europa ist euer engster Verbündeter, nicht ein Problem. Wir haben gemeinsame Feinde. Zumindest war das in den letzten 80 Jahren so. Wir müssen daran festhalten, denn das ist die einzig vernünftige Strategie für unsere gemeinsame Sicherheit.“ Die Verfasser der NSS hätten zwar Recht, dass die EU zwei Jahrzehnte russischen Putinismus „verschlafen“ habe, dennoch verfüge die Union weiterhin über Potenzial zur Veränderung und „nicht zu verachtende Ressourcen“.


Für Polen sieht Chrabota eine besondere Aufgabe: Es gelte, die Kategorie der souveränen Sicherheit Westeuropas „in Richtung eines stärkeren Schutzes der nordöstlichen NATO-Flanke“ neu zu definieren. Dort lauere das größte Risiko für das System der weltweiten Demokratie. „Das ist eine große Aufgabe für die polnische Regierung, den Premierminister und den Präsidenten“, mahnt der Autor. Er warte mit Hoffnung auf den Tag, an dem sie sich die Hand reichen und beweisen, „dass Sicherheitsfragen für Polen wichtiger sind als persönliche Ambitionen und Parteiinteressen“. Und mit ihm Millionen von Polen, so Bogusław Chrabota in der Rzeczpospolita.

DO RZECZY: Eine Chance, aber...

Der EU-Abgeordnete der PiS Ryszard Czarnecki sieht in der neuen amerikanischen Sicherheitsstrategie „eine Chance für Polen“ – und für die gesamte Region. Wie der Politiker in einem Beitrag für das nationalkonservative Portal Do Rzeczy schreibt, bestehe das Problem jedoch darin, dass die Amerikaner lediglich „den Rahmen eines gewissen Bildes“ geschaffen hätten. Das Bild selbst müsse die polnische Seite malen.


„Und hier der Haken“, schreibt Czarnecki: Die gegenwärtige Regierung könne und wolle diese „hervorragende Gelegenheit“ nicht nutzen. Das sei, „als würde man nicht ins Tor schießen, wenn man ein leeres Tor vor sich hat und nur wenige Meter davon entfernt ist“. Die vom Weißen Haus unterzeichnete Strategie sei „Honig auf das polnische geopolitische Herz“. Die Amerikaner schrieben das, was die polnische Rechte seit Jahren sage.

Der Autor listet drei Punkte auf, in denen die amerikanische Regierungsrechte und die polnische Oppositionsrechte übereinstimmten: erstens die Notwendigkeit regionaler Bündnisse, um gegenüber Berlin, Paris und der EU selbst eine stärkere Position zu haben; zweitens die Einschätzung, dass die Europäische Union „ideologisch auf den Hund gekommen“ sei; und drittens die These, dass Europa mit seinen Umweltauflagen „wirtschaftlichen Selbstmord“ begehe.

„Die aktuelle Regierung in Warschau hat zwei linke Hände, wenn es um Außenpolitik geht“, kritisiert Czarnecki. Gipfeltreffen zum Frieden in Osteuropa fänden in Paris oder Brüssel statt, aber nicht in Warschau – obwohl Polen das einzige NATO- und EU-Land sei, das gleichzeitig an Russland und die Ukraine grenze. Die amerikanische Sicherheitsstrategie sei „wie ein Lottoschein“ mit nur zehn Feldern statt 49, nur dass die aktuelle Regierung „nicht in der Lage ist, ihn auszufüllen“. Es sei offen, ob dieser Lottoschein noch gültig sein werde, wenn die polnische Rechte potentiell die Wahlen 2027 gewinne, so Ryszard Czarnecki in Do Rzeczy.

DZIENNIK/GAZETA PRAWNA: Inadäquat – aus nichts kann nichts entstehen

Auch Zbigniew Parafianowicz vom Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna widmet sich Polens Abwesenheit bei den wichtigen Gesprächen über die Zukunft der Ukraine. „Egal wie sehr wir uns auch anstrengen würden, weder der polnische Premierminister noch der Präsident sind in den Formaten vertreten, die über die Zukunft der Ukraine debattieren“, konstatiert er.

Der Publizist, lesen wir, habe mit Vertretern beider Machtlager gesprochen und zwei Interpretationen gehört. Die erste erkläre, warum Präsident Karol Nawrocki in den USA nicht in Sachen Ukraine tätig werde, trotz der „Chemie“ zwischen ihm und Donald Trump: Der US-Präsident wünsche sich demnach keine Fürsprecher Kiews. Er spreche entweder mit Viktor Orbán oder mit Meloni, deren Ansichten ihm näher seien. Es, so die Argumentation, habe keinen Sinn, die Beziehungen zu Washington für eine Sache zu gefährden, in der Trump „eine etablierte Meinung“ habe. Diese Argumentation erscheine rational, stehe jedoch im Widerspruch zu den – erfolgreichen – Bemühungen Andrzej Dudas, der seine Beziehungen zu Trump genutzt habe, um die Republikaner zu überzeugen, im Kongress für das 160-Milliarden-Dollar-„Biden-Paket“ für Kiew zu stimmen.


Außenminister Sikorski wiederum argumentiere, Polen habe nicht die Absicht, für „Teilungsabkommen für die Ukraine zu bürgen“. Auch das sei eine sinnvolle Argumentation – die Weigerung, an Gesprächen teilzunehmen, sei schließlich auch eine Strategie.

Doch reichen solche Argumente aus, um den Verhandlungen fernzubleiben, fragt der Autor? „Aus nichts kann nichts entstehen“ habe schon Leibniz gesagt. Wenn Polen in diesem Prozess überhaupt nicht vertreten sei, könne es nichts erwarten und werde auf nichts Einfluss haben.

Politiker der Rechten hätten versichert, dass der polnische Präsident ausgezeichnete Beziehungen zu Trump unterhalte, die – wie man annehmen könne – nun genutzt werden sollten. Politiker der Regierungskoalition versicherten indes, dass Donald Tusk in der EU allmächtig sei und in den Salons der EU frei agieren könne. „Beide Thesen“ – sowohl die über Nawrockis gute Beziehungen zu Trump als auch die über Tusks Omnipotenz in der EU – „scheinen - um bei Leibniz - inadäquat zu sein“, so Zbigniew Parafianowicz in Dziennik/Gazeta Prawna.

GAZETA WYBORCZA: Der präsidentielle Schluckauf

Bartosz T. Wieliński von der linksliberalen Gazeta Wyborcza führt Polens Abwesenheit am Verhandlungstisch indes nicht auf die Einflüsse des Staatspräsidenten und des Premierministers, sondern vielmehr auf die Beziehung der beiden Politiker zueinander zurück. Warum nehme Polen nicht an den Gesprächen mit der Ukraine in London teil. Die kurze Antwort: „Weil wir nicht eingeladen wurden.“ Die längere Antwort: Der Krieg, den Präsident Karol Nawrocki der Regierung von Donald Tusk erklärt habe, schlage sich für Polen als politischer „Schluckauf“ nieder, so Wieliński.

Aus diplomatischen Quellen, so der Autor, wisse er, dass Bundeskanzler Friedrich Merz versucht habe, Polen in den Kreis derer aufzunehmen, die in London mit Präsident Selenskyj über das Kriegsende gesprochen haben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der britische Premierminister Keir Starmer seien dagegen gewesen. Das Einzige, was Polen habe erreichen können, sei die Teilnahme an einer telefonischen Zusammenfassung der Gespräche zusammen mit Italien gewesen.

Der Grund? Wie Wielińskis Quellen betonen, gebe es im Ausland „Unklarheit darüber, wer in Polen die Außenpolitik führt“. Der Franzose und der Brite wollten sich nicht in diesen Streit einmischen. Sich in solche innenpolitischen Auseinandersetzungen einzumischen, ende schlecht. Die Polen sollten das erst unter sich klären, dann werde man weitersehen.

„Aus der Perspektive Warschaus scheint die Sache einfach“, schreibt Wieliński. „Aber aus der Perspektive des Auslands herrscht in Polen kompetenzrechtliches Chaos.“ Tusk spreche mit EU-Politikern, aber aus den Gesprächen mit US-Präsident Trump im August habe Nawrocki ihn verdrängt. Trotzdem sei es dem Präsidenten nicht gelungen, die Amerikaner davon zu überzeugen, ihn zusammen mit anderen europäischen Spitzenpolitikern ins Weiße Haus einzuladen. Außerdem spreche Tusk von bedingungsloser Unterstützung der Ukraine, während Nawrocki der Ukraine Undankbarkeit vorwerfe. „Welche Linie gilt?“ Es sei deutlich zu sehen, „wie schädlich das Chaos auf den Gipfeln der Macht für Polen“ sei. Leider deute nichts darauf hin, dass es bald enden werde, warnt Bartosz T. Wieliński in der Gazeta Wyborcza.

GAZETA WYBORCZA: Russland muss an die Wand gedrückt werden

Die linksliberale Gazeta Wyborcza veröffentlicht heute zudem ein ausführliches Interview mit dem deutschen Politologen Prof. Carl Masala von der Universität der Bundeswehr München, Autor des Buches „Wenn Russland gewinnt“. Masala warnt darin vor einem Szenario, in dem Russland, nach der Unterwerfung der Ukraine, die NATO angreife – und das Bündnis nicht in der Lage sei, seine Mitglieder zu verteidigen.

Auf die Frage, ob er nicht übertreibe, antwortet Masala mit einer Gegenfrage: Was wolle Russland? Die NATO zerstören. Müsse es dafür einen Frontalangriff auf das Bündnis durchführen? „Sechs Panzerdivisionen aus Belarus auf Warschau schicken?“ Bei einem solchen Szenario würde Artikel 5 des Washingtoner Vertrags ausgelöst, die Bündisländer würden sich auf Russland stürzen. Aber was wäre, fragt der Experte, wenn sich der russische Angriff auf die NATO „auf zwei Städte in Estland beschränken würde? Auf die grenznahe Narwa. Oder auf Spitzbergen oder Gotland?“


Bei einer Expertenkonferenz hätten sie Schätzungen ausgetauscht, berichtet Masala. In einer solchen Situation „würde demnach ein Drittel der NATO-Länder mit Russland kämpfen wollen, ein Drittel würde mit Russland verhandeln wollen, und ein Drittel würde hoffen, dass alles so schnell wie möglich endet“. Seinen mangelnden Glauben an die volle Wirksamkeit von Artikel 5 bestätige auch der jüngste Zwischenfall im estnischen Luftraum, als am 19. September drei russische MiG-31-Jäger für 12 Minuten eingedrungen seien. Bei den Konsultationen habe es NATO-Länder gegeben, „die darauf bestanden, dass die Russen durch einen Fehler in den estnischen Luftraum eingeflogen seien“. Er wolle sie nicht benennen, um keine Probleme mit dem Zugang zu vertraulichen Informationen zu bekommen.

Was müssten die Europäer tun, damit die Ukraine den Krieg gewinne? „Mehr militärische Hilfe leisten“, fordert Masala. Die Ukraine müsse „alles bekommen, was sie braucht, und zwar in großem Maßstab“. Man dürfe die militärische Hilfe nicht wie bisher „portionsweise zuteilen“. Die Sanktionen müssten verschärft werden, Russland aus dem SWIFT-System ausgeschlossen, die Schattenflotte, die russisches Öl transportiere, „liquidiert“ werden. Sanktionen gegen Länder, die Russland bei der Umgehung der Beschränkungen helfen – Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan –, seien notwendig. „Russland muss an die Wand gedrückt werden“, fordert Carl Masala im Gespräch mit Bartosz T. Wieliński für die Gazeta Wyborcza.

Autor: Adam de Nisau


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