PLUS MINUS: Der Mittlelstand verliert den Überblick
In einem Gespräch mit der Wochenzeitschrift Plus Minus erklärt der Soziologe, Professor Andrzej Zybertowicz den zerstörerischen Einfluss des Hyperindividualismus auf den Mittelstand und das Funktionieren von Gesellschaften. Ein Beweis für die destruktive Kraft der immer egozentrischeren westlichen Kultur sei unter anderem die Tatsache, dass viele reiche Länder der EU, die man aus polnischer Perspektive nicht nur als wohlhabender aber auch als besser organisiert bewertet habe, mit der Pandemie gar nicht besser umgehen können, als Polen. Man habe heute mit einer ganzen Generation von Narzissen zu tun, die immer mehr Rechte für sich fordern, ohne sich für die Situation der Gemeinschaft zu interessieren. Ein weiterer Merkmal der Hyperindividualismus sei die wachsende Zahl der Singels. Geht es um die psychischen Folgen der Corona-Pandemie hätten höchstwahrscheinlich sie die größten Schäden davongetragen, meint der Soziologe. Plötzlich hätten sich diese Menschen vergegenwärtigt, wie einsam sie im Grunde genommen seien. Covid sei ein harter Test für zwischenmenschliche Kontakte. Diejenigen, die noch vor einem Jahr dachten, dass sie ein wunderbares Leben führen, weil sie ein gute Arbeit und gerade eine neue Wohnung in Warschauer erworben hätten, würden heute das eigene Leben wahrscheinlich anders bewerten. Nicht selten seien es eben diese Menschen, die vom Stress und Einsamkeit getrieben, die Sicherheitsvorkehrungen gebrochen und illegal Fitnesszentren oder Bars besucht hätten. Auf der einen Seite gehörten sie dem Mittelstand an, auf der anderen seien sie wie eine Bombe, die die Gemeinschaft zerstören könnte.
Die Eigenart der Mittelklasse sei immer ihr Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft und die Kondition des Staates gewesen. Die Verantwortung dieser Gruppe habe aus ihrer Lebensstabilität resultiert. Diese Stabilität habe vernünftiges Verhalten und eine Weitergabe von Kompetenzen und Vermögen von Generation zur Generation nach sich gezogen. Diese Schicht werde momentan aber durch einen wuchernden Individualismus und die Konsumrevolution zerstört. Die technologische Entwicklung würde diesen Prozess nur noch beschleunigen, meint Professor Zybertowicz.
Geht es nach dem Soziologen, hätten die neuesten Technologien die Menschheit bereits blind gemacht. Wegen eines Überschusses von Informationen seien die meisten nicht in der Lage die Situation rational zu bewerten und Schlüsse zu ziehen. In dem täglichen Informationsstrom seien nur wenige Meldungen wahr und wichtig. Viele Journalisten würden nach und nach den Kontakt mit dem Leben verlieren und nicht die reale sondern die virtuelle Wirklichkeit beschreiben. In einer solchen Atmosphäre sei es unmöglich, eine redliche öffentliche Debatte zu führen. Die Mittelschicht, ähnlich übrigens wie die Politiker, verliere langsam den Überblick. Sie wisse nicht mehr, was wichtig und was zweitrangig sei. Zum ersten Mal seit 200 Jahren sei die Mittelklasse nicht im Stande, die Rolle einer Stütze der Vernunft zu spielen, sagt Soziologe, Professor Andrzej Zybertowicz im Magazin Plus Minus.
NEWSWEEK: Das Buch der Weisheit
Die Wochenzeitschrift Newsweek stellt die neue CD des genialen polnischen Pianisten Piotr Anderszewski vor. Es ist bereits seine vierte Bach-Aufnahme. Eigentlich ist das "Wohltemperierte Clavier" von Johann Sebastian Bach ein pädagogisches Werk. Der Dirigent Hans von Bülow hat es als das "Alte Testament" der Musik bezeichnet. Piotr Anderszewski habe gezeigt, dass in dem Klassiker aber auch sehr viel Gefühl steckt, lesen wir. Zwölf Präludien und Fugen aus dem zweiten Teil des "wohltemperierten Claviers" hat der Pole im vergangenen Jahr aufgenommen. Soeben ist die Platte erschienen. Die Aufnahmen habe er schon in der Pandemie beendet, sagt der Pianist. Noch im Frühling des vergangenen Jahres habe er mit der Musik von Bela Bartok durch die Welt getourt. Plötzlich habe man ein Konzert nach dem anderen abgesagt, erinnert sich Anderszewski. Man habe zwar gedacht, dass es im April, spätestens im Mai vorbei sein würde. Es sei aber anders gekommen. Der Lockdown habe ihn in Paris erreicht. Für den Pianisten sei die Isolierung wie ein ganz besonderes Geschenk gewesen, gibt er zu. Man konnte endlich mit sich selbst verkehren. Der Lockdown stellte eine Chance dar, um sich auf das eigene Innere zu konzentrieren. Er habe versucht, die Zeit in diesem Sinne zu nutzen und zu schätzen, sagt Anderszewski.
Die Stile sei in Paris unglaublich gewesen, eine ähnliche Situation habe es in dieser Stadt wohl lange nicht gegeben. Die Menschen seien verschwunden und die Natur sei in wenigen Tagen aufgewacht. Ohne den menschlichen Lärm konnte man singende Vögel und bellende Hunde hören. In der Seine habe er sogar Fische gesehen. Er sehne sich nach der alten Welt eigentlich nicht, gibt der Künstler zu. Er Fühle sich in den instabilen Zeiten im Grunde genommen sehr wohl. Nur viele Künstlerkollegen könne er nicht ganz verstehen. Endlich sei den Menschen eine Zeit der Stille gegeben. Wieso könnten viele es einfach nicht hinnehmen? Wieso spürten so viele Menschen das Bedürfnis danach, jeden Tag der Welt irgendetwas über sich zu sagen? Wieso müsse der Mensch in einer Zeit, die der Reflexion dienen könnte, so viel Lärm um sich herum machen? - so Piotr Anderszewski im Magazin Newsweek.
Jakub Kukla