Der Experte des Zentrums für Oststudien, Tadeusz Iwański seziert in einem Exklusivkommentar für den Auslandsdienst des Polnischen Rundfunks die Beschlüsse des NATO-Gipfels in Den Haag.
Sollte die amerikanische Entscheidung tatsächlich in vollem Umfang umgesetzt werden, hätte dies schwerwiegende Folgen. Betroffen wären unter anderem Raketen für Patriot-Systeme sowie Hellfire-Raketen, die zur Abwehr russischer Drohnen und ballistischer Raketen eingesetzt werden. Gerade diese Waffensysteme sind für die Ukraine von zentraler Bedeutung, da Russland die Intensität seiner Angriffe stetig erhöht. Am 29. Juni wurde ein neuer trauriger Rekord verzeichnet: 537 Drohnen und Raketen griffen das Land an, mit entsprechend hohen Opferzahlen.
Die Nachricht über die möglichen Einschränkungen erreichte die Öffentlichkeit nur wenige Tage nach einem bemerkenswerten Austausch zwischen Donald Trump und einer ukrainischen BBC-Journalistin während des NATO-Gipfels in Den Haag. Als sie nach den Lieferungen von Patriot-Raketen fragte, erkundigte sich Trump zunächst nach ihrer persönlichen Situation. Als er erfuhr, dass sie in Warschau arbeitet und ihr Mann als Soldat in der Ukraine kämpft, zeigte sich der US-Präsident sichtlich bewegt und versprach, sich der Sache anzunehmen. Die Entwicklung der folgenden Tage legt jedoch nahe, dass sich die Dinge eher zum Schlechteren gewendet haben.
Die Frage der Waffenlieferungen war offenbar auch ein zentrales Thema im Gespräch zwischen Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Rande des Gipfels. Die im Anschluss veröffentlichten, eher vagen Stellungnahmen klangen zwar positiv, doch konkrete Ergebnisse blieben aus. Für Kiew sind kommerzielle Rüstungsverträge derzeit von höchster Priorität, da die bisherigen Abkommen, die noch unter der Präsidentschaft von Joe Biden geschlossen wurden, bald auslaufen. Die europäische Unterstützung kann diese Lieferungen nicht vollständig ersetzen. Zwar steigt der Umfang der EU-Hilfen – allein in diesem Jahr auf bislang 35 Milliarden Euro – doch der Bedarf bleibt deutlich höher.
Immerhin brachte der NATO-Gipfel in Den Haag für die Ukraine einige greifbare Ergebnisse. Noch kurz vor dem Treffen war es keineswegs sicher, dass Präsident Selenskyj eingeladen und die Ukraine im Abschlussdokument überhaupt erwähnt werden würde. Gegen diesen drohenden Ausschluss hatte sich insbesondere Donald Trump ausgesprochen, dem dies angeblich seine Vermittlungsversuche gegenüber Russland erschwert hätte. Letztlich setzte sich jedoch die europäische Seite durch: Selenskyj war in Den Haag präsent, nahm am gemeinsamen Abendessen der Staats- und Regierungschefs teil, und die Ukraine wurde als einziges Partnerland namentlich in der Gipfelerklärung erwähnt – anders als etwa Japan, Australien oder Südkorea.
Allerdings erreichte Kiew nicht alle seine Ziele. Fortschritte auf dem Weg zur NATO-Mitgliedschaft blieben aus, und auch das von der Ukraine angestrebte Treffen der NATO-Ukraine-Kommission auf Ebene der Staats- und Regierungschefs fand nicht statt. Dennoch konnte Kiew einen Rückschritt verhindern. Der Beschluss über die „Unumkehrbarkeit“ der Integration der Ukraine in die NATO bleibt bestehen, und das Treffen der Kommission wurde zumindest auf Ebene der Außenminister abgehalten. Besonders wichtig für Kiew ist der dritte Punkt der Erklärung, in dem sich die NATO-Staaten ausdrücklich zur weiteren militärischen Unterstützung der Ukraine bekennen und festhalten, dass entsprechende Ausgaben in den Verteidigungshaushalten berücksichtigt werden dürfen.
Gleichzeitig hat der Gipfel gezeigt, dass es innerhalb des Bündnisses derzeit keinen Konsens über eine NATO-Erweiterung um die Ukraine gibt. Die USA sehen das Thema einer möglichen Mitgliedschaft als Teil eines künftigen Verhandlungspakets mit Russland und gestehen Moskau offenbar ein Mitspracherecht in dieser Frage zu. Auch einige europäische Länder, darunter Ungarn und Deutschland, stehen einer Aufnahme der Ukraine skeptisch gegenüber – aus Sorge um die eigene Sicherheit. Dabei wäre die gegenteilige Logik angebracht: Solange die Ukraine außerhalb der NATO bleibt, bleibt sie Ziel russischer Aggression. Russland betrachtet die Ukraine nicht als Teil des Westens und geht daher davon aus, dass der Westen nicht bereit ist, sie entschlossen zu verteidigen. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nach Kriegsende könnte dagegen helfen, Russland glaubwürdig abzuschrecken.
Der offen kommunizierte Widerwille der NATO, die Allianz um die Ukraine zu erweitern, sowie die von den USA angedeuteten Einschränkungen bei der Lieferung wichtiger Munitionstypen, bergen das Risiko einer weiteren Eskalation. Russland versteht vor allem die Sprache der Stärke – doch viele westliche Staaten unterschätzen weiterhin die Logik und strategische Kultur des Kremls.
Tadeusz Iwański ist Leiter des Teams Belarus-Ukraine-Moldau am Warschauer Zentrum für Oststudien (OSW). Der studierte Ukrainist und Osteuropa-Spezialist analysiert seit 2011 für das OSW die Innen- und Außenpolitik der Länder der Region. Zuvor arbeitete er in der Ukrainischen Redaktion des Auslandsdienstes des Polnischen Rundfunks (PRdZ) und war Gastwissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Ukraine, Belarus und die sicherheitspolitische Rolle Russlands in Osteuropa.