Rzeczpospolita: Bewusste Geschichtspolitik ist eine Frage der Sicherheit
Ein Staat, der keine Geschichtspolitik betreibe, sei wehrlos. Die kollektive Erinnerung definiere uns, und wer darauf verzichte, die Diskussion über die Vergangenheit zu gestalten, überlasse das Feld jenen, die Stimmungen von außen lenken wollten, warnt der Direktor des Juliusz-Mieroszewski-Dialogzentrums, Dr. Ernest Wyciszkiewicz.
Wyciszkiewicz verweist auf Putins Artikel von 2021 über Russen und Ukrainer als "ein Volk" - was viele damals als Obsession abtaten, sei in Wirklichkeit eine Kriegsankündigung gewesen. Wenn für Russland Geschichte Teil des Arsenals sei, dürfe sie für Polen nicht nur ein Foto im Familienalbum sein, argumentiert er.
Als konkretes Beispiel russischer Geschichtspropaganda nennt Wyciszkiewicz das kürzlich in Russland erschienene "Schwarzbuch der polnischen Russophobie". Darin wird Polens Geschichte seit Mieszko I. als ausschließlich durch die Beziehung zu Russland definiert dargestellt. Selbst Johannes Paul II. und die Solidarność würden darin als "antirussische Projekte" bezeichnet.
"Das Ziel der auf die Erinnerung zielenden russischen Propagandaoperationen ist die Zukunft, nicht die Vergangenheit", erklärt Wyciszkiewicz. Wenn Putin historische Texte veröffentliche, sollten daher nicht vor allem Historiker darauf antworten, denn das legitimiere den Diktator als Forscher und ignoriere die politische Bedeutung der Botschaft.
Besonders besorgniserregend findet der Experte die langfristigen Folgen der russischen Geschichtspropaganda. "Es wird ein 'Homo Putinicus' geformt, der von einer bestimmten Geschichtsvision überzeugt ist", warnt er. Was für Polen offensichtlich sei - etwa die sowjetische Verantwortung für Katyn - werde für Russen in 30 Jahren nicht selbstverständlich sein.
"Wenn in 30 Jahren ein russischer Teenager sagt, die Deutschen seien die Täter des Massakers von Katyn, wird er auch andere Fakten nicht akzeptieren können und folglich nicht wollen, dass sich sein Staat verändert." Polen müsse sich darauf einstellen, dauerhaft sowohl an einen feindlichen Staat als auch an eine feindliche Gesellschaft zu grenzen.
In diesem Kontext wendet sich Wyciszkiewicz gegen die Trennung von Realpolitik und Werten: "Die Verteidigung von Werten liegt in unserem Interesse. Prinzipien dienen einem Staat, der keine Großmacht ist." Die Wahrung der historischen Wahrheit über Katyn oder Wolhynien verteidige eine Ordnung, die Polen Vorteile in Sicherheit und Wohlstand bringe.
Zur schwierigen polnisch-ukrainischen Geschichte merkt Wyciszkiewicz an, dass der Krieg nicht die beste Zeit für Geschichtsdiskussionen sei. Geschichte sei für die Ukraine im Krieg gegen Russland zu einem Instrument der Verteidigung geworden. Daher würden Versuche, über die schwierige Geschichte zu sprechen, sofort zu Spannungsquellen. Positiv bewertet er, dass Polen und die Ukraine von der historischen und politischen Ebene heruntergestiegen seien und erste Exhumierungen polnischer Opfer der Verbrechen in Wolhynien und Ostgalizien begonnen hätten.
Der Experte kritisiert schließlich, dass Historiker ihre gesellschaftliche Rolle nicht ausreichend wahrnehmen. Es fehle jemand mit Forschungsautorität, der fesselnd über Geschichte erzählen könne - stattdessen hätten YouTuber das Feld übernommen. Der Staat müsse die Gesellschaft verantwortungsvoll über wichtige historische Ereignisse informieren, doch stattdessen beobachte er eine Abdankung angesichts schwieriger Themen. Anstatt sich darüber zu beklagen, dass die Jungen zu wenig lesen, sollten wir uns darüber Gedanken machen, wie wir sie in ihrem Informationsraum erreichen können, so Ernest Wyciszkiewicz im Gespräch mit der Rzeczpospolita.
Dziennik/Gazeta Prawna: Tusks verlorenes Gespür
Die polnische Regierungskoalition droht an ihren inneren Widersprüchen zu zerbrechen. Was als hoffnungsvoller Neuanfang nach dem Wahlsieg vom 15. Oktober 2023 begonnen habe, entpuppe sich zunehmend als orientierungsloses Stückwerk, warnt der Politologe Bartłomiej Machnik im Gespräch mit Dziennik/Gazeta Prawna.
„Wenn wir über stabiles Regieren sprechen, ist ein gemeinsamer Nenner entscheidend", so der Experte. Doch genau dieser fehle der Vier-Parteien-Koalition. Statt einer Vision für Polens Zukunft regiere man ausschließlich als „Anti-PiS" – dies sei zu wenig für nachhaltigen Erfolg.
Die seit Februar verschleppte Regierungsumbildung offenbare das Grundproblem: Minister und Staatssekretäre seien nicht nach Kompetenz, sondern nach Parteiproporz ausgewählt worden. „Viele haben sich vorher nie mit ihren Ressorts beschäftigt", kritisiert der Politikwissenschaftler. Das könne auf Dauer nicht funktionieren.
Wie Machnik hervorhebt, sei von den „100 Konkreten für die ersten 100 Tage” kaum etwas geblieben: Die Abschaffung des umstrittenen Kirchenfonds sei gescheitert, weil Tusk ausgerechnet den PSL-Chef Kosiniak-Kamysz mit der Koordination betraut habe – dessen Partei das Vorhaben ablehne. Bei der versprochenen Aufhebung der Behandlungslimits im Gesundheitswesen existiere nach fast zwei Jahren nur eine „vorläufige Analyse". Auch das Lebenspartnerschaftsgesetz verharre im Koalitionsstreit.
Statt proaktiv zu gestalten, fährt Machnik fort, reagiere die Regierung nur auf äußeren Druck – wie etwa beim Thema Deregulierung, das erst nach massiven Appellen der Wirtschaft angegangen werde.
Das Grundproblem: Der Regierungschef habe verloren, was ihn früher ausgezeichnet habe – sein Gespür für gesellschaftliche Stimmungen. „Heute ist Tusk nicht nur ein erfüllter, sondern auch ein müder Politiker."
Zudem habe er die mediale Zeitenwende verschlafen. Ein kurzer Tweet reiche heute nicht mehr aus, um Debatten zu prägen. Neue Meinungsführer und Faktenchecker hätten das Feld übernommen. „Kommunikativ verliert der Premier", konstatiert Machnik.
Problematisch sei auch Tusks persönliche Fehde mit Jarosław Kaczyński, die seit 20 Jahren andauere und nun politische Entscheidungen beeinflusse, wie vor allem bei den umstrittenen Schritten des Justizministeriums zu sehen sei.
Auch die kleineren Partner der Bürgerkoalition, fährt Machnik fort, würden in existenziellen Krisen stecken. Polen 2050 kämpfe mit struktureller Schwäche und fehlendem Profil. Ohne klare Abgrenzung zur Bürgerplattform drohe Hołownias Partei die Bedeutungslosigkeit. Die Neue Linke sitze in der „programmatischen Falle": Ihre Kernforderungen – liberales Abtreibungsrecht, Lebenspartnerschaften – scheiterten am Koalitionsveto. Die sozialpolitischen Erfolge könnten das kaum kompensieren.
Einzig die PSL behalte als klassische „Drehscheibenpartei" alle Optionen offen – inklusive einer möglichen Koalition mit der PiS, auch wenn Parteichef Kosiniak-Kamysz dies derzeit ausschließe.
Mit Blick auf die nächsten Parlamentswahlen gibt sich Machnik pessimistisch. Nur wenn die Koalition doch noch ein gemeinsames Ziel formuliere und „chirurgisch präzise" umsetze, sei ein Wahlerfolg möglich.
Die Gefahren würden jedoch überwiegen: Präsident Nawrocki könnte das Parlament etwa mit populären Gesetzesinitiativen fluten, die eine Erfüllung der Koalitionsversprechen darstellen. „Findet die Regierung keine Antwort, steht der Weg für die Rückkehr der PiS an die Macht offen", so der Politologe im Interview mit Dziennik/Gazeta Prawna.
Autor: Adam de Nisau