RZECZPOSPOLITA: Putin hat die Karotte verspeist. Donald Trump greift zum Stock.
Rusłan Szoszyn analysiert in der konservativ-liberalen Rzeczpospolita Trumps Kehrtwende nach dem gescheiterten Alaska-Gipfel. Weder der rote Teppich in Alaska noch die „stundenlangen Gespräche im Kreml während zahlreicher Besuche des Weißen-Haus-Gesandten in Moskau" hätten Früchte getragen, schreibt der Autor. Stattdessen habe Putin in Trumps ausgestreckter Hand „die Kapitulation der USA und eine Chance gesehen, die Einheit des Westens in der Ukraine-Frage zu brechen".
Werde Trump nun zum Stock greifen? Wie das Wall Street Journal berichtete, wolle das Weiße Haus nachrichtendienstliche Daten für Angriffe auf russisches Territorium mit Kiew teilen und erwäge auch die Lieferung von Marschflugkörpern mit hoher Reichweite. Die wirtschaftlichen Konsequenzen möglicher Tomahawk-Lieferungen wären für Russland verheerend, führt Szoszyn aus. Bereits jetzt könne Moskau fast 40 Prozent der Raffineriekapazitäten nicht mehr nutzen – hauptsächlich wegen ukrainischer Drohnenangriffe. Die Versorgungslage sei so kritisch, dass Vizepremier Alexander Nowak die Benzinimporte aus Belarus von mageren 45.000 Tonnen im September auf 300.000 Tonnen monatlich hochfahren wolle. „Sie suchen auch in Drittstaaten nach Benzin, unter anderem in China", berichtet der Publizist.
Die düsteren Wirtschaftsprognosen des russischen Wirtschaftsministeriums – „keinerlei Investitionen, wachsende Arbeitslosigkeit und stagnierende Einkommen" im kommenden Jahr – würden durch die Lieferung amerikanischer Raketen an Kiew noch verschärft. „In Russland spricht man, vorerst inoffiziell, über eine mögliche Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes", so Szoszyn. Und was, wenn die Raketen die kriegswichtigen Rüstungsfabriken träfen?
Falls Trump sich für eine weitere Verschärfung seines Kurses gegenüber dem Kreml entscheide, lesen wir weiter, hätte Putin immer weniger Optionen für eine Antwort. Der ehemalige Präsident Dmitri Medwedew, „den der amerikanische Präsident kürzlich einen ‚dummen Menschen' nannte, wird sicherlich noch stärker mit Atomkrieg drohen. Aber zu realen Taten wird Moskau nicht fähig sein", urteilt Szoszyn.
Der Grund: Der Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine würde die Länder des Globalen Südens und vor allem China von jeglichen Kontakten mit dem Kreml abschrecken. Auch Belarus komme als Aufmarschgebiet nicht mehr in Frage: „Diesmal könnten nicht nur die Raffinerien in Mosyr und Nowopolozk, sondern auch Lukaschenkos Residenzen im Fadenkreuz ukrainischer Raketen und Drohnen landen." Trump stelle Putin somit vor ein ernstes Dilemma. Dem Kremlchef würde ein weiteres Treffen in Alaska gut tun. Es ist nicht auszuschließen, dass er genau diesen Weg einschlagen wird, so Rusłan Szoszyn in seinem Kommentar für die Rzeczpospolita.
RZECZPOSPOLITA: „Wir denken rational, sie nicht" – Ein General über Moskaus Kriegslogik
General a.D. Mieczysław Bieniek, ehemaliger stellvertretender NATO-Oberbefehlshaber, erklärt im Interview mit der Rzeczpospolita die scheinbar irrationale Eskalation Russlands. Anlass ist ein spektakulärer Sabotageakt: Auf einem der größten polnischen Eisenbahnknotenpunkte wurde im September nachts ein 20-Tonnen-Waggon abgekoppelt und auf den Gleisen zurückgelassen. Wir seien nur knapp an einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes vorbeigeschlittert, so die Zeitung.
„Das sind Akte des hybriden Krieges – verschiedene Arten von Brandstiftungen, Angriffe auf Pipelines, Unterseekabel und so weiter", erklärt Bieniek. Der General betont, dass viele Anschläge bereits vereitelt worden seien: „Wir sprechen nicht darüber, wie viele Fälle verhindert wurden, weil wir keine Panik auslösen wollen, aber die Wachsamkeit ist groß und unsere Dienste sind seit Monaten in Bereitschaft."
Zur russischen Motivation meint Bieniek, die Intensivierung hybrider Angriffe erfolge gerade wegen der europäischen Integration und Aufrüstung. „Weil es ihnen an der Front nicht gelingt, sie national scheitern und wirtschaftlich schwächer werden, nutzen sie alle Mittel, die sie noch in Reserve haben", analysiert der General. Es sei die Doktrin von General Waleri Gerassimow: „Aktivierung aller möglichen Assets, einschließlich der Einflussnahme auf Wahlen", die im Falle Moldaus fehlgeschlagen sei.
Auf die Frage nach der scheinbaren Kontraproduktivität russischer Aktionen, die Europa nur zur Aufrüstung anspornten, antwortet Bieniek knapp: „Wir denken rational, aber sie denken nicht rational." Die russische Führung wolle dem eigenen Volk demonstrieren: „Seht ihr? Wir können ihnen drohen." Dabei sieht Bieniek deutliche Parallelen zu Afghanistan: „Im vierten Kriegsjahr treten wir bereits in die Phase der Afghanisierung dieses Konflikts ein." Die neue Mobilmachung von 135.000 Soldaten, die Gefallenen, die Invaliden auf den Straßen – all das werde „früher oder später beim Volk ankommen".
Seine Prognose: Wenn Russland nicht binnen ein bis zwei Jahren einen bedeutenden Erfolg erziele, müsse es den Krieg beenden – „aber nicht wegen des Drucks des Westens, sondern auf Druck der eigenen Gesellschaft". Bieniek warnt jedoch, man müsse auf weitere Anschläge vorbereitet sein: „Ich denke, sie werden hier und da versuchen, wo immer sie Schwachstellen finden", so General a.D. Mieczysław Bieniek im Interview mit der Rzeczpospolita.
DZIENNIK/GAZETA PRAWNA: Die gefährliche Illusion der großen Panzerschlacht
Ähnlicher Meinung ist der Politikwissenschaftler Marcin Kędzierski, der in seinem Essay für das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna scharfe Kritik an Polens Verteidigungsdoktrin übt. Putin, meint auch Kędzierski, denke nicht rational im westlichen Sinne. Die Invasion der Ukraine sei aus „ideologischen und innenpolitischen Gründen" erfolgt, nicht aus militärischem Kalkül. „Der russische Präsident will das Imperium in den Grenzen von vor 1991 wiederherstellen, und in seiner Doktrin ist die Ukraine ein Element der ‚russischen Welt'", analysiert der Autor. Nach dreieinhalb Jahren Krieg bewege sich Russland in Richtung eines totalitären Staates. Ein Rückzug sei unmöglich: „Putin weiß genau, dass Hunderttausende bewaffnete und erfahrene Soldaten, die von der Front zurückkehren, eine enorme Bedrohung für die Systemstabilität wären."
Gleichzeitig habe die schwache Frequenz bei den groß angekündigten Manövern „Zapad-25" deutlich gezeigt, dass praktisch die gesamte russische Armee im Ukraine-Krieg gebunden ist. Eine Landoffensive gegen Polen sei damit auf Jahre schwer vorstellbar. Stattdessen könne Russland aber sehr wohl auf einen toxischen Mix aus Cyberangriffen auf Verwaltung, Bankensystem und Energieversorgung, dazu Drohnen, Desinformation und klassische Sabotage zurückgreifen: „Vergiftung von Wasser, Durchtrennung von Unterseekabeln, Zerstörung von Pipelines, Bombenanschläge", zählt der Autor auf.
Aus diesem Grund sei Polens Reaktion, laut Kędzierski, grundfalsch: „Selbst wenn wir 3000 Panzer und tausend HIMARS hätten, würde uns das nicht gegen die realen Bedrohungen helfen." So habe etwa der neuerliche Sirenenalarm im Kreis Chełm perfekt gezeigt, dass Polen als Staat und Gesellschaft auf eine Eskalation völlig unvorbereitet sei. Nach dreieinhalb Jahren gebe es immer noch kein funktionierendes Zivilschutzsystem mit Schutzrauminfrastruktur. „Paradoxerweise trägt das Schüren von Ängsten vor einer großen russischen Landoffensive – wie es Politiker tun – zur Schwächung unserer Sicherheit bei, weil es unsere Aufmerksamkeit in die falsche Richtung lenkt", mahnt Marcin Kędzierski in seiner Analyse für Dziennik/Gazeta Prawna.
Autor: Adam de Nisau