Deutsche Redaktion

Märtyrer oder Feigling? Die Ziobro-Flucht spaltet Polen

10.11.2025 10:22
Die Flucht des ehemaligen Justizministers Zbigniew Ziobro nach Budapest dominiert die polnischen Zeitungskommentare. Während konservative Stimmen vor einer gefährlichen Hassspirale warnen, sehen liberale Kommentatoren ein politisches Eigentor der PiS. Außerdem: Droht Europa eine Überproduktion von Artilleriemunition? Und welche Rolle spielt Polen in der Wasserstoff-Revolution? Mehr dazu in der Presseschau.
Nie wiadomo jak długo Zbigniew Ziobro pozostanie w Budapeszcie
Nie wiadomo jak długo Zbigniew Ziobro pozostanie w BudapeszcieDawid Wolski/East News

NIEZALEZNA.PL: Die gefährliche Hassspirale

Die nationalkonservative Webseite niezalezna.pl warnt in einem emotionalen Kommentar ihres Chefredakteurs Tomasz Sakiewicz vor den Folgen der Verfolgung Zbigniew Ziobros. Nur wenige Beobachter der öffentlichen Szene würden an die „Verbrechen" Ziobros glauben, schreibt Sakiewicz. Die Vorwürfe über Ausgaben für Feuerwehrfahrzeuge, ein Staatsanwaltschaftsgebäude oder sogar den Kauf des Pegasus-Systems könnten „nur in sehr erhitzten Köpfen" als ernsthafte Affäre funktionieren.


Das wahrhaft Erschreckende sei jedoch etwas anderes: Alle wüssten genau, dass es sich um einen krebskranken Menschen handle. Ohne fachärztliche Hilfe, auf die man in Haft kaum hoffen könne, könne er „schlichtweg sterben". Die Entscheidungsträger wüssten dies genau. „Und trotzdem wollen sie seine Gesundheit und sein Leben riskieren", so Sakiewicz. Diese Entscheidung sei „geradezu menschlich abstoßend".

Der Grund dafür sei noch beunruhigender: „In Polen wurden bereits Wähler herangezüchtet, für die der Tod eines Menschen kein Hindernis ist. Wichtiger ist die Befriedigung des Hasses." Doch einmal in Gang gesetzt, sei die Hassmaschinerie sehr schwer zu stoppen. Sie werde weitere Menschen zerstören – einschließlich ihrer Schöpfer. „Das kennen wir leider aus der nicht allzu fernen Geschichte", warnt Tomasz Sakiewicz in niezalezna.pl.

RZECZPOSPOLITA: Ziobros gescheitertes Märtyrertum schadet der PiS

Eine völlig andere Perspektive bietet Michał Szułdrzyński, Chefredakteur der konservativ-liberalen Rzeczpospolita. Die Erzählung von der Verfolgung Ziobros überzeuge die Öffentlichkeit nicht, stellt er nüchtern fest. Die Daten aus dem Netz sprächen eine deutliche Sprache: 96 Prozent der Kommentare über ihn seien kritisch. „Das Verstecken in Budapest hat sich gegen ihn gewendet. Es könnte der gesamten Vereinigten Rechten schaden."

Szułdrzyński erinnert an die weitverbreitete Abneigung gegen Ziobro selbst innerhalb der Vereinigten Rechten während ihrer Regierungszeit. Die zentristisch orientierten Politiker hätten Ziobro vorgeworfen, mit seinem Euroskeptizismus und Radikalismus die gesamte Rechte infiziert zu haben. Gleichzeitig sei die Überzeugung verbreitet gewesen, dass Ziobro Dossiers über andere Fraktionen innerhalb der vereinigten Rechten sammelte. „Das war kein Zufall, dass sich einfache Abgeordnete nicht beeilten, Maciej Wąsik und Mariusz Kamiński zu verteidigen, als sie Anfang 2024 verhaftet wurden", schreibt der Autor.



Besonders scharf kritisiert Szułdrzyński die Übertreibungen der Ziobro-Verteidiger. Als der PiS-Abgeordnete Sebastian Kaleta seinen ehemaligen Chef mit einem Opfer der Repressionen von Alexander Lukaschenko verglich – wo über tausend politische Gegner in Strafkolonien verrotten – sei es nur eine Frage der Zeit gewesen, wer noch weiter gehe. Dies gelang dem ehemaligen TV-Star Jacek Łęski, der Ziobros Situation mit der der Juden im Dritten Reich verglich.

„Sehr zynisch gesprochen – vielleicht hätte die PiS politisch einige Punkte sammeln können, wenn Ziobro nach Polen gekommen wäre und sich krank hätte verhaften lassen", analysiert Szułdrzyński. „Denn Märtyrertum kann Sympathie wecken. Nicht realisiertes Märtyrertum weckt nur Mitleid." Die Daten seien unerbittlich: Nur 4 Prozent der Internetnutzer hätten Ziobro am Donnerstag verteidigt. 96 Prozent der Erwähnungen über ihn (mit einer Reichweite von 60 Millionen) seien negativ gewesen.

Rzeczpospolita: Droht Europa eine Munitions-Überproduktion?

Die Rzeczpospolita analysiert ebenfalls die rasant wachsenden Produktionskapazitäten für Artilleriemunition in Europa. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine habe der Westen begonnen, seine Produktionskapazitäten massiv auszubauen. Der deutsche Rheinmetall-Konzern allein werde bis 2027 etwa 1,5 Millionen Geschosse jährlich produzieren können, schreibt Maciej Miłosz.

Die Investitionen seien beeindruckend: Rheinmetall baue Fabriken in Litauen (300 Millionen Euro), Deutschland (500 Millionen Euro), Rumänien (500 Millionen Euro) und Lettland (300 Millionen Euro). Auch das britische BAE Systems plane, seine Produktionskapazitäten mindestens zu vervierfachen. „Wenn wir dazu die Kapazitäten der Konzerne KNDS oder Nammo hinzurechnen, die ebenfalls investieren, werden diese Zahlen beeindruckend", so der Autor.



Der EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius habe angekündigt, dass 2025 in den EU-Ländern 2 Millionen 155-mm-Geschosse produziert würden. Zusammen mit ukrainischen und amerikanischen Kapazitäten könnte die Produktion 2027 etwa 4 Millionen Stück jährlich erreichen. „Wenn kein großangelegter NATO-Krieg mit Russland ausbricht, was sehr unwahrscheinlich erscheint, kann man davon ausgehen, dass bis zum Ende des Jahrzehnts die Lager aufgefüllt werden", analysiert Miłosz.

Das Problem: Ab Anfang der nächsten Dekade könnte Europa über große Produktionskapazitäten für Geschosse verfügen, für die es kaum Nachfrage gebe. Polen habe mit Investitionen von 2,4 Milliarden Złoty mindestens ein Jahr Verspätung gegenüber anderen europäischen Investitionen. Die Polska Grupa Zbrojeniowa solle ab 2028 etwa 150.000 Geschosse jährlich produzieren. „Angesichts der großen Bedürfnisse der polnischen Armee sollte die Gruppe in den ersten fünf Jahren keine Verkaufsprobleme haben. Aber später könnte sich herausstellen, dass unsere Produkte auf dem sehr wettbewerbsintensiven Markt zu teuer sind", warnt der Autor.

Wenn in einigen Jahren tatsächlich das Angebot an Artilleriegeschossen die Nachfrage übersteigen werde, würden die westlichen Staaten vor dem Dilemma stehen, ob sie unrentable Betriebe finanziell unterstützen oder sie pleite gehen lassen sollen. Die Lehre aus dem Krieg in der Ukraine sei, dass Staaten ihre Produktionskapazitäten in der Rüstungsindustrie aufrechterhalten sollten. Auch wenn dies jedes Jahr Kosten verursacht. Das Gedächtnis von Politikern und Wählern ist jedoch kurz, und in einigen Jahren, wenn der Krieg in der Ukraine an Intensität verliert, werden solche Entscheidungen weit weniger offensichtlich sein als heute, so Maciej Miłosz in der Rzeczpospolita.

BIZNESALERT.PL: Polen in der Wasserstoff-Spitzengruppe

Optimistischer klingt die Analyse von Marcin Karwowski über Polens Position in der Wasserstoffproduktion. Polen sei mit 1.125 Kilotonnen Produktionskapazität der drittgrößte Wasserstoffproduzent in der Europäischen Union – nach Deutschland (2.014 Kilotonnen) und den Niederlanden (1.504 Kilotonnen).

In Polen gebe es 13 Wasserstoff produzierende Anlagen. Die größte Produktionskapazität besitze die Orlen-Anlage in Danzig (235 Kilotonnen jährlich), gefolgt vom Werk desselben Unternehmens in Płock (232,84 Kilotonnen) und der Azoty-Anlage in Puławy (225 Kilotonnen).

Allerdings dämpft Karwowski die Euphorie: Die Internationale Energieagentur (IEA) gebe zu, dass die Perspektiven für neue Wasserstoffprojekte weniger optimistisch seien als noch vor einem Jahr. Fast die Hälfte der Projekte seien große Elektrolyse-Investitionen in Entwicklungsländern, die aufgrund fehlender Regulierungen und unsicherer Finanzierung gefährdet seien.

Die polnische Strategie sehe unter anderem 2 GW Leistung für die Produktion von emissionsarmem Wasserstoff bis 2030 vor, sowie 800-1000 Wasserstoffbusse. Doch nicht alle Unternehmen sähen eine Zukunft im Wasserstoff. Polenergia habe sich von ihrem fortgeschrittenen H2Silesia-Projekt zurückgezogen, obwohl die Europäische Kommission bereits eine maximale Förderung von 142,77 Millionen Euro genehmigt hatte. „Polen hat als drittgrößter Produzent in der EU das Potenzial, eine bedeutende Rolle in der Wasserstoffrevolution zu spielen. Doch die ursprünglichen Pläne waren zu ambitioniert", schließt Karwowski seine Analyse für biznesalert.pl.

Autor: Adam de Nisau

Allianz für den baltischen Wasserstofftransport

27.01.2024 19:58
Polens nationaler Gasnetzbetreiber Gaz-System plant mit Unternehmen aus Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Deutschland eine Machbarkeitsstudie für das Projekt Nordic-Baltic Hydrogen Corridor (NBHC). 

Rekordexport polnischer Waffen

28.10.2025 14:30
Der seit fast vier Jahren andauernde Krieg in der Ukraine hat den Export polnischer Rüstungsgüter deutlich beeinflusst. Im Jahr 2020 haben polnische Unternehmen Waffen im Wert von knapp 400 Millionen Euro ins Ausland geliefert. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 stieg der Betrag auf fast 1,2 Milliarden Euro. Das Rekordjahr war jedoch 2024.

Sejm hebt Immunität von Ex-Justizminister Ziobro auf

07.11.2025 21:33
Ihm wird vorgeworfen, öffentliche Mittel aus dem Justizfonds in Höhe von rund 150 Millionen Złoty zweckentfremdet zu haben. Das Parlament genehmigte zudem seine Festnahme und Untersuchungshaft, die noch von einem Gericht bestätigt werden muss.

Reale Probleme oder mediale Inszenierung?

08.11.2025 13:49
Der polnische Sejm hat dem ehemaligen Justizminister Zbigniew Ziobro die parlamentarische Immunität entzogen. Ziobro, der sich derzeit im Ausland aufhält, erklärt, er rechne nicht mit einem fairen Gerichtsverfahren. Die Vorwürfe gegen ihn – ebenso wie die sogenannte Grundstücksaffäre – setzen die oppositionelle PiS-Partei unter erheblichen Druck.

Ex-Justizminister Ziobro weist Korruptionsvorwürfe zurück und nennt Verfahren politisch

09.11.2025 13:30
Der frühere polnische Justizminister Zbigniew Ziobro kündigte am Samstag „rechtliche und politische Schritte“ an, nachdem das Parlament tags zuvor seine Immunität aufgehoben hatte. Damit können die Staatsanwälte 26 Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit dem Justizfonds gegen ihn erheben.