RZECZPOSPOLITA: Sich ausloggen und feiern
Die konservativ-liberale Rzeczpospolita präsentiert in ihrem „Plus Minus"-Magazin eine versöhnliche Perspektive auf den umstrittenen Nationalfeiertag. Die Historikerin Estera Flieger gesteht, sie habe den 11. November jahrelang „geradezu nicht ausstehen können", obwohl es für eine Historikerin kaum einen historischeren Tag gebe. Die alljährliche Auseinandersetzung und Polarisierung habe ihr den Geschmack am Feiertag verdorben.
Flieger kritisiert die Inflationierung des Faschismus-Begriffs scharf: „Ich habe in den letzten Jahren viele Enden der Demokratie, Zusammenbrüche des Sozialversicherungssystems und der polnischen Wirtschaft überlebt. Den ‚Faschismus' werde ich wohl auch überleben", so die Autorin. Das Problem sei real, räumt sie ein, aber das Wort werde überstrapaziert. Vor allem sei „Faschismus" keine gesellschaftliche Diagnose – wenn man ein Problem falsch benenne, könne man es schwer lösen.
Ihre Lösung: „Wer sich am 11. November streiten oder gegen den Faschismus kämpfen will, soll sich streiten und gegen den Faschismus kämpfen. Der Marsch soll marschieren – ich vertraue den Sicherheitskräften und Gerichten." Sie empfehle stattdessen, sich von den sozialen Medien abzumelden, Elgars „Polonia" aufzulegen und ein mit Weißmohn gefülltes Hörnchen zu essen – wie es die Posener täten, die sich „zu Recht aus diesem Theater ausgeklinkt" hätten. „Einfach feiern", so Fliegers Fazit in der Rzeczpospolita.
Dziennik/Gazeta Prawna: Souveränität durch Algorithmen und Joint Ventures
In einem ausführlichen Interview mit Dziennik/Gazeta Prawna skizziert Jacek Siewiera, ehemaliger Chef des Büros für Nationale Sicherheit und derzeit Senior Fellow am Atlantic Council in Oxford, eine komplexe Vision moderner polnischer Souveränität. Unabhängigkeit definiere sich heute auf zwei Ebenen: als Freiheit der Wahl, die derzeit höchstens durch „Degeneration der Medien, Algorithmen und soziale Radikalisierung" bedroht sei, und als physische Fähigkeit, diese Freiheit zu verteidigen.
Die technischen Werkzeuge der Souveränität seien heute Führungs- und Kontrollsysteme (C2), Satellitenkapazitäten für Bildgebung und Kommunikation sowie künstliche Intelligenz. „Je mehr heimische Technologie in diesem Prozess steckt, desto souveräner wird das Vaterland selbst", erklärt Siewiera. Polen habe zwar „recht gute Modelle und ausgezeichnete Wissenschaftler", aber Lösungen auf Basis polnischer KI gebe es noch kaum. Das Hauptproblem sei die Geschwindigkeit – „uns fehlt es an Vorstellungskraft, Mut und Respekt vor Fehlern."
Der Sicherheitsexperte plädiert für eine neue Art der Rüstungskooperation. Bei Forschungs- und Entwicklungsverträgen müsse man akzeptieren, dass im ersten Jahr vielleicht nur 70 Prozent der Ziele erreicht würden. „Stellt euch vor, dass wir uns in Polen über Parteigrenzen hinweg einig wären, dass manchmal Fehler gemacht werden müssen", so Siewiera. Andernfalls komme das „Fertigprodukt" aus dem Westen, und Polen baue seine Souveränität auf den „Launen von Ingenieuren und Informatikern aus diesem oder jenem Land" auf.
Bezüglich des europäischen SAFE-Programms zeigt sich Siewiera pragmatisch: „Sollen sie doch verdienen! Zusammen mit uns." Entscheidend sei, dass Polen die Kontrolle über Eigenkapital und geistiges Eigentum behalte. Die ausländischen Konzerne sollten als Finanzinvestoren agieren – sie brächten Kapital, hätten aber keine Kontrolle über die Eigentumsstruktur und die direkte Technologieentwicklung. „Die Verhandlungsposition ist heute entschieden auf polnischer Seite", betont er, da die Regierung die Kontrolle über den größten Teil des SAFE-Fonds in Europa erlangt habe.
„Infrastruktur und Rüstungsindustrie – neben der Landwirtschaft – müssen der Treibstoff für unsere Region sein. Das muss die Lokomotive sein. Und darum geht heute der Kampf", fasst Siewiera zusammen. Die Frage sei nicht, ob Polen Geld für Rüstung ausgebe, sondern ob es diese Ausgaben – „manchmal aus Schulden" – zum Motor der eigenen Wirtschaft machen könne.
Gefragt nach europäischer Identität, betont Siewiera, Europa berufe sich kaum noch auf sein Haupterbe der letzten tausend Jahre: die lateinische Kultur. „Demokratie, der freie Bürger als Individuum mit Menschenrechten, Freiheit – all das hat Europa mühsam noch in der Antike, im alten Griechenland und im Römischen Reich geschaffen." Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die Europäer der gegenseitigen Gewalt abgeschworen. Heute, „zu einem großen Teil wegen der russischen Aggression und dank der bisherigen Rolle Polens", treffe Europa die Entscheidung, im Bedarfsfall wieder zur Gewalt fähig zu sein. „Vielleicht wird gerade das Tor zur Nutzung der Quellen der lateinischen Welt in konkreten Angelegenheiten geöffnet", philosophiert Siewiera in seinem Gespräch mit der Dziennik/Gazeta Prawna.
FORSAL.PL: Wahlen gehen als Patriotismus, Kirche weniger
Das Wirtschaftsportal Forsal.pl liefert empirische Daten zur polnischen Identitätsdebatte. Laut einer IRCenter-Umfrage sähen 78 Prozent der Polen die Wahlteilnahme als Ausdruck von Patriotismus – mehr als das Flaggenhissen an Feiertagen (73 Prozent) oder der Besuch historischer Orte (73 Prozent).
Die polnische Sprache sei mit 88 Prozent der wichtigste „Pfeiler der Polnischkeit", gefolgt von Denkmälern und Gedenkstätten (84 Prozent) sowie der polnischen Natur und Landschaft (84 Prozent). Familie und Erziehung rangierten mit 83 Prozent auf dem dritten Platz.
Bemerkenswert sei, was in der Umfrage fehle: Traditionelle religiöse Praktiken oder der Kirchenbesuch tauchten in den Spitzenplätzen gar nicht auf. Stattdessen dominierten pragmatische und kulturelle Aspekte – vom Kauf polnischer Produkte (73 Prozent) über das Zeigen polnischer Kultur ausländischen Gästen (76 Prozent) bis zur positiven Repräsentation Polens im Ausland (77 Prozent). Die Förderung heimischer Kultur in sozialen Medien erreiche immerhin noch 71 Prozent Zustimmung, berichtet Forsal.pl auf Basis der repräsentativen Befragung von 1002 Personen.
Autor: Adam de Nisau